Noch war gewissermaßen die Tinte am Staatsvertragsdokument nicht trocken, unterlief Österreich bereits das ,Schweizer Muster'", schrieb Hans Magenschab kürzlich an dieser Stelle ; schon am 7. Juni 1955 habe der Nationalrat die Bundesregierung beauftragt, alle Schritte zwecks Aufnahme Österreichs in die UNO einzuleiten. Was wir allerdings nicht erfahren: Der Staatsvertrag selbst enthielt in seiner Präambel die Willenserklärung der vier Besatzungsmächte, "die Bewerbung Österreichs um Zulassung zur Organisation der Vereinten Nationen zu unterstützen". Dieser Text stammt schon aus 1947, und aus dem gleichen Jahr (2. Juli 1947) stammt Österreichs Ansuchen um Aufnahme in die Vereinten Nationen.

Diese Willenserklärung der vier Mächte wurde im Frühjahr 1955 von niemandem infrage gestellt, auch nicht von den Sowjets, nachdem man sich in Moskau - übrigens auf sowjetischem Vorschlag (!) - auf die Formel einer zukünftigen Neutralität Österreichs, "wie sie von der Schweiz gehandhabt wird", geeinigt hatte. Auf Anfrage der Österreicher bei den Moskauer Verhandlungen vom April 1955 bestätigte Vizeaußenminister Semjonow, dass sich an der in der Präambel zum Staatsvertragsentwurf enthaltenen Befürwortung von Österreichs UN-Beitritt nichts ändere.

Die Österreicher beeilten sich, dies noch am 15. April 1955 unmittelbar vor ihrer Rückreise nach Wien den Moskauer Vertretern der drei Westmächte mitzuteilen. Ein paar Tage später erwähnte Außenminister Leopold Figl die sowjetische Klarstellung in einem Interview für die dänische Zeitung Berlingske Tidende, und Staatssekretär Bruno Kreisky verwies darauf in einem Vortrag in Wien Anfang Mai.

Das bedeutet: Österreicher und Sowjets wussten von Anfang an, dass das "Schweizer Muster" für Österreich mit einer Abweichung behaftet sein würde - der UN-Mitgliedschaft Österreichs, und die drei Westmächte wussten dies nur Stunden später.

Hinzuzufügen ist, dass die Westmächte, besonders die Amerikaner, Österreichs Bewerbung um die UN-Mitgliedschaft lebhaft förderten. Sie wollten damit Österreich aus der ausschließlichen Fixierung auf den neuen Neutralitätsstatus, den sie ohne Begeisterung akzeptierten, herauslösen.

Volle Akzeptanz . . .

Die Aufforderung des Nationalrats an die Bundesregierung vom 7. Juni 1955, alle Schritte zwecks Aufnahme in die UNO einzuleiten, wurde übrigens vom amerikanischen Botschafter Thompson in den (im Außenamt vorbereiteten) Text dieser Resolution hineinreklamiert, deren Hauptinhalt die Erklärung der Neutralität Österreichs und die Aufforderung an die Bundesregierung war, dem Nationalrat einen die Neutralität regelnden Entwurf eines Bundesverfassungsgesetzes vorzulegen.

Auf dem Ballhausplatz erwog man im Sommer 1955 einen besonderen Status für Österreichs UN-Mitgliedschaft, ähnlich jenem der Schweiz während ihrer Mitgliedschaft im Völkerbund während der Zwischenkriegszeit. Die Idee wurde aber bald fallen gelassen, und die Amerikaner sprachen sich für eine Aufnahme Österreichs ohne eigene Diskussion des Neutralitätsstatus aus. In Österreich veröffentlichte der Völkerrechtler Alfred Verdross noch im Juli 1955 eine Interpretation, wonach vier der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich) ihren endgültigen Antrag auf Aufnahme Österreichs bereits nach Anerkennung von Österreichs Neutralität stellen würden, dass somit davon ausgegangen werden könne, dass sie Österreichs neutralen Status respektieren würden.

Diese Doktrin wurde vom Ballhausplatz endgültig erst zu Beginn der Neunzigerjahre anlässlich der Kuwait-Krise durch eine neue Haltung ersetzt, die UN-Mandaten einen klaren Vorrang vor Neutralitätsvorbehalten einräumte.

Noch ein Wort zum "Schweizer Neutralitätsmuster": Es wurde bei den Moskauer Verhandlungen von sowjetischer, nicht von österreichischer Seite zur Diskussion gestellt. Was bezweckten die Sowjets damit?

. . . der Großmächte

John Foster Dulles hatte Molotow schon im Februar 1954 bei der Berliner Außenministerkonferenz mitgeteilt, dass die USA es akzeptieren würden, wenn Österreich "eine Schweiz" zu werden wünsche, wofür es manche Anzeichen gebe; Österreichs Neutralität dürfe aber nicht auferlegt werden - also keine vertragliche Neutralisierung! -, sondern müsse eine freie Entschließung sein. Die Sowjets wussten daher, dass die USA (und damit die anderen Westmächte) ein Szenario nicht ablehnen könnten, das Dulles selbst vorgeschlagen hatte.

Die Formel der Neutralität, "wie sie von der Schweiz gehandhabt wird", war die große Konsensformel, die von Moskau bis Washington die Zustimmung zum politischen Paket "Staatsvertrag/Neutralität" ermöglichte. Dass dabei an der schon seit 1947 angestrebten UN-Mitgliedschaft Österreichs nicht gerüttelt wurde, störte weder die Großmächte noch Österreich. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.12.2005)