Madrid/Berlin - Die Beziehungen zwischen den USA und ihrem einstigen Hinterhof Lateinamerika zeichnen sich nach Einschätzung des prominenten spanischen Politologen Ignacio Sotelo heute vor allem dadurch aus, dass sie immer geringer werden. "Die USA haben längst nicht mehr ein so starkes Interesse an Lateinamerika wie zu Zeiten des Kalten Krieges", unterstrich das Mitglied der Europäischen Akademie für Wissenschaft und Kunst in einem am Donnerstag von der Berliner "tageszeitung" (taz) veröffentlichten Interview.

Die linken Regierungen in Brasilien, Venezuela, Uruguay, Argentinien und Chile, zu denen jetzt die neue in Bolivien hinzu komme, seien sehr unterschiedlich, konstatierte der regelmäßige Mitarbeiter der Madrider Tageszeitung "El Pais". "Es sind viele linke Modelle - nicht eines. Hugo Chavez' neuer Populismus in Venezuela ist eine Sache, Brasilien eine andere, und die chilenische Regierung würden viele lateinamerikanische Linke gar nicht als linke bezeichnen. Mit der indigenen Linken (in Bolivien unter Evo Morales) gibt es dazu eine ganz neue linke Kraft."

"Die alten, korrupten Parteien befinden sich in einer Krise, es entsteht eine neue politische Klasse und Struktur mit neuen linken Regierungen, denen gemein ist, dass sie zutiefst antineoliberal sind und den Vereinigten Staaten sehr kritisch gegenüberstehen", so Ignacio Sotelo. Die Auswirkungen der ideologischen Gemeinsamkeiten hinsichtlich einer intensiveren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit gegenüber den Vereinigten Staaten seien aber sehr begrenzt. "Einige dieser Staaten haben sehr gute Beziehungen mit Kuba, andere üben am kubanischen System starke Kritik und wollen nicht auf eine Weise mit dem kapitalistischen System brechen, die ihnen die Chancen raubt, ausländische Investitionen ins Land zu holen."

"Die Versprechen der lateinamerikanischen Linken sind völlig unrealistisch", meint der Politologe. "Man kann keine fortgeschrittene Sozialpolitik betreiben, wenn man keine wirtschaftliche Basis dafür hat. Die linken Regierungen von heute haben diese Lektion gelernt - das heißt aber auch, dass die Schere zwischen Wahlversprechen einerseits und dem tatsächlich Erreichbaren immer größer geworden ist. Der Einzige, der heute Sozialpolitik zu Gunsten der ärmsten Bevölkerung machen kann, ist Venezuelas Präsident Hugo Chavez - weil er Erdöl hat." (APA)