Am 21. Dezember 1975, dem Sonntag vor Weihnachten, stürmt ein palästinensisch- deutsches Terrorkommando die Tagung der Erdöl exportierenden Länder in Wien. Doch die Geiselnahme von elf Opec-Ministern verläuft nicht wie geplant. In einer anfänglichen Panikstimmung werden drei Menschen von den Terroristen erschossen - ein österreichischer Polizist, ein irakischer Leibwächter und ein Libyer. Hans-Joachim Klein, einer der Terroristen, wird beim Schusswechsel mit der Polizei von einem Querschlägerverletzt.

Dieses Attentat, das zum Ziel hatte, die Opec-Minister in ihren jeweiligen Heimatländern zum öffentlichen Verlesen eines pro-palästinensischen Manifests zu zwingen, war der "point of no return" im Leben Hans-Joachim Kleins. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Klein mit der RAF sympathisiert, einigen ihrer Mitglieder Wohnungen besorgt und Jean-Paul Sartre bei dessen Besuch in Stammheim begleitet. "RAF, das hat nicht lang gedauert, das waren drei, vier Monate", fasst er zusammen. Dann wurde er von einer anderen linksradikalen Gruppierung aufgenommen, den Revolutionären Zellen (RZ).

Vorher war das Interesse des gelernten Automechanikers für die Anliegen der protestierenden Studenten (die wiederum stolz auf ihren "Prolo-Linken" waren) in langen Diskussionen bei Zigaretten und Bier geweckt worden.

Der Umgang der deutschen Regierung mit den Gefangenen der RAF ließ in Hans-Joachim Klein den Plan reifen, selbst den Kampf mit "dem System" aufzunehmen. "Ich sah und hörte, wie die langsam vor die Hunde gingen, und dass alles, was wir auch versuchten - damit sie die gleichen Haftbedingungen wie andere Gefangene haben - nichts, aber auch gar nichts nützte. Im Gegenteil, es wurde von Tag zu Tag schlimmer", schreibt er in seinem 1979 im Rowohlt-Verlag erschienenen Buch Rückkehr in die Menschlichkeit.

Wut und Frustration politisierten und radikalisierten den 20-Jährigen. "Ich war ziemlich militant - von '68 an. Ich war immer in den vordersten Reihen bei Demos, hab aber auch Nacht-und-Nebelaktionen gemacht, Sachschäden verursacht. Später habe ich Devisen von Banküberfällen in DM umgetauscht und Pässe gefälscht" und "Bis mich die RZ aufgenommen hat, wurde ich erst mal kontrolliert, ob ich auch o.k. bin. Das heißt, ich war oft mit Leuten zusammen, von denen ich absolut nicht wusste, dass die RZ sind - wochenlang sind die mit mir Bier trinken gegangen. Am Anfang habe ich gedacht, die arbeiten für den Verfassungsschutz, bis mir einer sagte, nein, wir sind alle RZ, und der Chef bin ich. Da war ich baff. Das war Ende '74, vielleicht Anfang '75." Im Gegensatz zur RAF und zur "Bewegung 2. Juni" geben die Mitglieder der RZ ihr bürgerliches Leben nicht auf, sondern führen es zur Tarnung weiter. Niemand weiß, wie viele Mitglieder die RZ insgesamt hatten.

Kleins weiterer Weg führte ins Ausland - zur Teilnahme an konspirativen Treffen der RZ mit anderen Terrororganisationen. Dabei lernte er den berüchtigten "Carlos" kennen, der später in Wien das Kommando führte. Bei einem der Treffen wurde Klein für die Teilnahme am Überfall auf die Opec-Konferenz angeworben. "Wenn ich versuche nachzuvollziehen, was damals abgelaufen ist, ist viel Naivität von mir drin - ich hab nur mit dem Bauch gedacht. Das war eine Mischung aus Robin Hood und Brigantentum. Ich hab halt gedacht, wir sind ein kleines Sandkorn in diesem großen Getriebe. Und wenn es ein bisschen knirscht, ist es ganz gut", sagt er heute.

Erst am Abend vor dem Attentat erfuhr Hans-Joachim Klein von "Carlos", dass der Hintergrund für den Coup in Wien zwei Auftragsmorde seien. Für ein Zurück war es nun zu spät. Nachdem das Terrorkommando 70 Geiseln in seine Gewalt gebracht hatte, wurde der schwer verletzte Hans-Joachim Klein ins AKH gebracht. Eine Notoperation rettete ihm das Leben. Die Terroristen forderten freien Abzug mit etwa der Hälfte der Geiseln - darunter die Ölminister - und dem frisch operierten Hans-Joachim Klein. Algerien erklärte sich bereit, die Terroristen aufzunehmen. Dort nahm man die Verhandlungen wieder auf. Kurz darauf wurden sämtliche Geiseln freigelassen - zu den Auftragsmorden kam es nicht. Gerüchte über Lösegeldzahlungen an "Carlos" in Millionenhöhe wurden laut, blieben aber unbestätigt.

Hans-Joachim Klein tauchte zunächst in einem palästinensischen Ausbildungslager für Terroristen im Südjemen unter. Von seiner Schussverletzung erholte er sich nur langsam. In dieser Zeit reifte in ihm ein Gedanke: "Ich wollte aus dem Terrorismus aussteigen.

Der eine Grund war Wien, die drei Toten - das waren für mich Morde. Absolut sinnlose Morde, durch nichts zu rechtfertigen. Der andere war der, dass ich in diesem Ausbildungslager ankomme und auf ein Kommando treffe, das aus Deutschen von der RAF und aus Palästinensern besteht. Die waren gerade dabei zu planen, ein Passagierflugzeug mit einer Abwehrrakete vom Himmel zu holen - mit der einzigen Begründung: Es sitzen Israelis drin. Allein schon, dass Deutsche ein Flugzeug runterholen wollen, in dem Israelis sitzen - da gibt es Grenzen des Denkens. Nicht nur Grenzen des Handelns, sondern Grenzen des Denkens. Und da habe ich mir gedacht, da musst du weg, so schnell wie möglich."

Gleichzeitig war ihm allerdings klar, dass er bereits zu viel über die Revolutionären Zellen und die Auftraggeber im Hintergrund wusste. Zudem stand er als einer der meistgesuchten Terroristen der Welt auf den Fahndungslisten der Polizei. Klein wusste, dass er Hilfe benötigte. Bei der Planung seines Ausstiegs zog er nur einen einzigen Freund ins Vertrauen: "Ich konnte zu kaum jemandem Kontakt aufnehmen, weil ich Angst hatte, dass das an die falschen Ohren kommt. Damit meine ich jetzt nicht die Sicherheitsbehörden oder die Polizei, die mich auch gerne geschnappt hätten, sondern die RZ. Die waren überall infiltriert. Kein Mensch wusste, wer die Revolutionären Zellen sind, aber die waren innerhalb der gesamten Linken infiltriert. Wenn das an die falschen Ohren gekommen wäre, zwei, drei Tage später hätte ich 'ne Kugel im Kopf gehabt. Die haben mich ja dann auch tatsächlich umzulegen versucht, im April 1977, im Aostatal."

Dort verschanzte er sich nach seiner Rückkehr aus dem Nahen Osten in einem Ferienhaus. Er begann zu schreiben - um zu warnen: "Die Guerilla ist für mich der reine Wahn, deren Aktionen mit linker Politik nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Schon lange nicht mehr. Ich bin mal in die Guerilla eingetreten, auch um meine Vorstellungen von bewaffnetem Kampf zu verwirklichen. Die politischen Inhalte, die die Guerilla in ihren Anfängen noch gehabt hat, sind dahin. Sie haben sich selbst degradiert zu Jetset-Terroristen, wie das mal einer von der alten Garde aus dem Knast heraus formulierte. Reisen, Planung und die Aktion als Höhepunkt in eine unpolitische Sackgasse sind geblieben. Und ich fühle mich um den Rest meines Lebens beschissen." Blatt um Blatt beschrieb Klein in seinem Versteck die eigene Geschichte. Nur knapp entging er in dieser Zeit einem Mordanschlag durch die RZ.

Im Mai 1977 wurde im im Spiegel eine Erklärung Kleins veröffentlicht. Darin bedauerte er die Wiener Morde und warnte gleichzeitig vor zwei geplanten Anschlägen der RZ - auf die damaligen Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Berlin und Frankfurt. Dem Brief lag - als Zeichen seiner Abwendung von jeglicher Gewaltbereitschaft - seine Pistole bei. Zwei Jahre später erschien sein Buch Rückkehr in die Menschlichkeit. Darin beschreibt er den internationalen Flügel der RZ und deren Methoden der Instrumentalisierung als sektenähnliches System. In der linken Szene wurde das Buch kontrovers diskutiert. Hans-Joachim Klein wurde - was er vorausgesehen hatte - von einigen Linken als Verräter bezeichnet.

Andere reagierten mit physischer Gewalt auf die Veröffentlichung: "Der Verlagsbuchhandlung in Frankfurt wurden die Scheiben eingeschmissen, meine Bücher herausgenommen und verbrannt. Da habe ich nur gesagt, na gut, '33 hat man auch Bücher verbrannt." Doch es gab auch positive Reaktionen. Im Szenemagazin Pflasterstrand moderierte Chefredakteur Daniel Cohn-Bendit die Diskussionsbeiträge. "Da schrieben auch Leute, dass sie durch mein Buch erkannt haben, dass der Weg in den Terrorismus der falsche wäre."

Seit dieser Zeit lebt Hans-Joachim Klein mit falschen Papieren in Frankreich. Er ist ständig auf der Hut und auf finanzielle Unterstützung von Freunden angewiesen. In dieser Situation lernte er eine Frau kennen und lieben, die beiden gründeten eine Familie. Ein Sohn und eine Tochter wurden geboren - Vater unbekannt. Klein wurde Hausmann, erzog die Kinder und las viel: "Meine Frau wusste nicht von Anfang an, wer ich war. Mein Sohn hat es erst bei meiner Festnahme 1998 erfahren, meiner Tochter habe ich es erzählt, als sie 14 war. Sie war dagegen, dass ich mich stelle, aber ich wollte einfach irgendwann ein Ende finden. Es gab kein Weiter mehr. Ich hatte kein Geld, konnte nicht arbeiten und nicht reisen und ich hatte die Schnauze voll, mich von meiner Frau und Freunden aushalten zu lassen. Das Problem war nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft."

Als Fran¸cois Mitterrand 1985 ehemaligen italienischen Terroristen einen Neustart in Frankreich anbot, schöpften Klein und seine Familie Hoffnung: "Wir haben die Regierung kontaktiert und angefragt, ob sie auch mir ,echte falsche' Papiere ausstellen würden. Die haben an die 200 Leute von Lotta Continua, von den Roten Brigaden und Prima Linea mit einer Aufenthaltsgenehmigung und einem neuen Namen ausgestattet. Aber mir wollten sie das nicht gewähren. Meine Frau hat da sehr drunter gelitten. Meine Kinder konnte ich erst am 3. Januar 2004 anerkennen lassen. Da waren sie 22 und 18 Jahre alt."

Das Leben in der Illegalität belastete die Familie. 1993 zerbrach die Beziehung. Hans-Joachim Klein zog in ein winziges Dorf, wo er in einem kleinen, feuchten Haus wohnte. Aus Geldmangel kann er sich im Winter keine Heizung leisten, da verkriecht er sich unter Decken und liest.

Seit Längerem schon leidet er an Panikattacken, kombiniert verschiedene Psychopharmaka und Antidepressiva, um die Anfälle im Griff zu haben. In den Sommermonaten arbeitet er auf einem Bauernhof. Er renoviert Häuser und baut eine Jogurtherstellung mit auf. Damit beliefert er sogar die örtliche Polizei, der er schon deshalb unverdächtig erscheint. Dennoch trägt er sich mit dem Gedanken, sich zu stellen.

Im September 1998 - kurz vor den Wahlen in Deutschland - wurde er in seiner Stammkneipe vom deutschen Bundeskriminalamt und der französischen Polizei verhaftet. Im Jahr 2000 wurde Kleins Rolle beim Überfall auf die Opec in einem zweimonatigen Prozess geprüft. Die Anklage lautet auf dreifachen Mord. Klein gesteht die Beteiligung am Opec-Überfall, bestreitet aber die Mordvorwürfe. Zeugen-Auftritte von Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit, der erklärt, Klein sei von anderen in den Terrorismus hineingezogen worden, sorgen für öffentliches Aufsehen. Das Urteil lautete neun Jahre Haft.

Nach sechs Jahren wird Hans-Joachim Klein zwei Tage vor Weihnachten 2003 überraschend begnadigt. Schon im Januar 2004 kehrt er in das kleine französische Dorf zurück: "Als ich das erste Mal in Frankfurt für einen Tag aus dem Gefängnis rausdurfte, war ich völlig verloren." (DER STANDARD, ALBUM)