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Die Regierung in Ankara verharrt in indifferentem Schweigen, die internationalen Proteste haben nichts gefruchtet.

Foto: dpa/Arne Dedert
Der Prozess gegen Orhan Pamuk, den bekanntesten türkischen Schriftsteller, ist am Freitag aufgenommen und gleich wieder ausgesetzt worden. Pamuk, der wegen eines Interviews zur Armenierfrage angeklagt werden soll, wurde sowohl bei Betreten als auch Verlassen des Gerichts von nationalistischen Demonstranten angegriffen, ohne dass die Polizei versuchte, dies wirksam zu unterbinden.

Vor Beginn der Verhandlung wurde ihm im Flur des Gerichts ein Aktendossier von einer fanatischen Demonstrantin auf den Kopf geschlagen, nach der Verhandlung griff eine Gruppe der faschistischen "Grauen Wölfe" sein Auto an. Die zahlreich vertretene Polizei schaute dem Treiben entweder zu oder griff wesentlich zu spät ein.

Ein Mitglied des Europarates berichtete, er sei von einem der Anwälte der Nebenkläger, der zu einer rechtsgerichteten Anwaltsvereinigung gehört, ins Gesicht geschlagen worden. Vor und im Bezirksgericht in Sisli herrschte bereits Stunden vor Verhandlungsbeginn das schiere Chaos. Medienvertreter aus aller Welt, Delegationen des Europaparlaments und des Europarates, Vertreter des Pen-Clubs, Freunde von Pamuk und Nationalisten versuchten meist vergeblich, in dem 40 Personen fassenden Gerichtssaal einen Platz zu ergattern.

Das Gericht hatte im Vorfeld beschlossen, dass Pamuk nicht nach dem reformierten, im Juni in Kraft getretenen Strafgesetz angeklagt werden könne, da zum Zeitpunkt des Interviews im Februar noch das alte Gesetz galt. Nach dem alten Gesetz aber muss das Justizministerium einem Prozess wie jenem gegen Pamuk zustimmen.

Das Gericht hatte sich deshalb bereits am 4. Dezember an Justizminister Cemil Cicek gewandt. Da dessen Entscheidung noch nicht vorliegt, setzte es nun die Verhandlung bis zum 7. Februar aus. Damit liegt der Ball jetzt eindeutig bei der Regierung von Premier Tayyip Erdogan.

Der Versuch, sich aus dem heiklen Fall herauszuhalten und international auf die Unabhängigkeit der Justiz zu verweisen, ist damit gescheitert. Gegenüber dem Standard meinte der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit, der als Prozessbeobachter angereist war, Erdogan müsse sich nun persönlich einschalten. "Er muss dafür sorgen, dass dieser absurde Prozess eingestellt wird, und eine neue Vorlage zum Strafrecht einbringen, die Anklagen wegen Meinungsäußerungen unmöglich macht." Pamuk hatte gesagt, in der Türkei seien eine Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht worden. (DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.12.2003)