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Foto: APA/Wolfgang Wagner
Standard: Was ist PAS?

Friedrich: Es steht für "Parental Alienation Syndrom", was eine Entfremdung zwischen dem Kind und einem Elternteil beschreibt. Das Phänomen gibt es zweifellos, doch mit dem Begriff selbst wird gerne Schindluder getrieben. Ich bin kein Freund davon, weil es als Syndrom aufgebauscht wurde.

STANDARD: Was geht in Kindern vor, wenn sich Eltern trennen?

Friedrich: Jede Scheidung zieht eine Beeinflussung erdenklichster Art mit sich. Grundsätzlich muss man drei Phasen unterscheiden, von der jede eine spezielle Einwirkung auf das Kind hat. Die erste Phase ist der Beginn der Auseinandersetzung. Je jünger das Kind ist - also ab einem Alter von drei, vier Jahren -, umso mehr bezieht es den elterlichen Streit direkt auf sich und meint, es sei die Ursache. Es hört mit gespitzten Ohren ganz genau, wann es genannt wird. Etwa wenn ein Elternteil sagt: Es ist ja kein Wunder, dass das Kind so deppert ist, das hat es ja alles von dir. Dann kommt die Schockphase.

Wenn es zur Scheidung kommt, ist das Kind meist vorher nicht eingeweiht, sondern kriegt plötzlich mitgeteilt: Wir sind getrennt, wir lassen uns scheiden. Nicht, dass es das nicht bereits geahnt hätte, aber was vermutet wurde, wird schlagend. Die dritte Phase ist die schwierigste für das Kind: Was passiert an Rollenzuteilungen? Wie wird sich die Welt gestalten? Der Vater geht, er zeigt möglicherweise wenig Interesse am Kind, es kriegt extreme Angst um die Mutter. Denn wenn es die auch noch verliert, ist es mutterseelenallein auf der Welt. Das ist ungeheuer ängstigend.

STANDARD: Diese Ängste können ausgenutzt werden?

Friedrich: Je jünger das Kind ist, desto stärker manipulierbar ist es. Im Alter bis sechs Jahren befinden sich Kinder in der Entwicklungsphase des animistischen Denkens. Sie leben in einer Märchenwelt, und man kann ihnen alles Mögliche einreden. Wenn dann ein Elternteil den anderen verteufelt, kriegen die Kinder tatsächlich Angst vor ihm. Wenn man dann auch noch eine zeitliche Spaltung von ein paar Monaten erwirkt, dann kennt das Kind den anderen Elternteil kaum mehr, und damit greifen Beeinflussungen besonders stark.

STANDARD: Wie können ältere Kinder manipuliert werden?

Friedrich: In der Pubertät folgt eine Phase der Berechnung: Die Kinder wollen gelobt werden, und sie denken sehr materiell. Wenn der Vater sagt, er zahlt die Reitstunden etc., dann ist das Kind sehr rasch damit zu locken und zu kaufen.

STANDARD: Kann ein gemeinsames Sorgerecht die Lösung sein?

Friedrich: Der Fluch des gemeinsamen Sorgerechts besteht darin, dass sich die finanziell Stärkeren, die Geschickteren und diejenigen, die das härter durchziehen, durchsetzen, und das sind meistens die Väter. Auch wenn die Eltern eine gemeinsame Obsorgepflicht haben, ist ein Heim erster Ordnung zu definieren, in dem das Kind zum überwiegenden Teil lebt und seine Zuhause-Identität hat. Wer Kinder zwischen drei und fünf bei der Übergabe von einem Elternteil zum anderen erlebt, etwa am Wochenende, sieht sie meist bitterlich weinen, weil sie nicht zum anderen wollen. Doch das Gleiche passiert bei der Rückgabe. Das gehört zu diesem Lebensalter dazu und bedeutet meist nichts, wird aber häufig von einem Elternteil missbraucht.

STANDARD: Passiert so eine Entfremdung häufig?

Friedrich: Es gibt viele solcher Fälle, der Zwist ist eher die Regel als die Ausnahme. Entfremdung gelingt dort, wo der Rosenkrieg so böse Formen annimmt, dass den Eltern das Kind letztlich egal wird. Die Entfremdung kann bewusst inszeniert werden, vor allem die Väter verwenden das gerne. Ich fordere seit Jahren Prozessbegleiter bei Scheidungen, weil die Anliegen der Kinder nie vor Gericht zur Sprache kommen.

STANDARD: Gibt es einen Unterschied in der Beeinflussbarkeit zwischen Buben und Mädchen?

Friedrich: Das ist ein entwicklungspsychologisches Phänomen. Buben zwischen vier und sechs sind ganz stark an die Mütter, Mädchen an die Väter gebunden. Das wird von kenntnisreichen Anwälten und Eltern oft ausgenutzt. Die haben sozusagen einen Wettbewerbsvorteil, wenn die Scheidung gerade in diese Zeitspanne fällt. In vielen Fällen sind die Scheidungsanwälte an Zerwürfnissen direkt mit schuld, weil sie die Situation noch anheizen. Im Falle einer Scheidung geht es um Gewinnmaximierung, nie um Optimierung, und wenn man Briefe von Scheidungseltern durchliest, erkennt man die Menschen oft nicht wieder.

STANDARD: Was bedeuten derartig tief greifende Zerwürfnisse für die weitere Entwicklung des Kindes?

Friedrich: Es geht sicher nicht spurlos vorüber - Beziehungsstrukturen werden auf lange Sicht gestört, weil es offensichtlich möglich ist, Menschen fallen zu lassen. Solche Kinder haben später die Angst, Ähnliches könnte ihnen selbst passieren, und damit ist Beziehung an sich bereits gestört. Das sieht man im momentanen Egoismus natürlich nicht ein. Da gibt man dem nach, was der reiche Vater bietet, nicht bedenkend, welche Auswirkungen das hat. Normalerweise löst sich das Kind mit Sturm und Drang von beiden Eltern, doch nachher kehrt wieder Harmonie ein. Wenn aber zu viele böse Sätze fallen, ist diese Harmonie nie wieder herzustellen.

STANDARD: Wie sollen sich die gemobbten Elternteile verhalten?

Friedrich: Sie sollten etwa ein Brieftagebuch schreiben, in dem sie ihr Leid, ihre Fantasien und Gedanken an das Kind niederschreiben. Sie müssen zu Festtagen, wie dem Geburtstag, diese Briefe auch an das Kind abschicken. Denn es kommt sonst einmal der Tag, an dem es den Spieß umdrehen und behaupten wird: Eigentlich war ich ihm/ihr egal, man hat sich nicht um mich gekümmert, und deshalb bin ich gegangen. Das Schreiben hilft auch, selbst einiges loszuwerden und zu dokumentieren. (Ute Woltron, DER STANDARD Printausgabe, 10./11.12.2005)