Lutz Rathenow/Harald Hauswald: Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall. € 12,40/128 Sei- ten. Jaron Verlag, Berlin 2005

Buchcover: Jaron Verlag

Alltag ist eine durchaus ernste Sache: Impressionen aus dem Ost-Berlin der Achtzigerjahre, das offiziell damals noch "Berlin - Hauptstadt der DDR" hieß.

Foto: aus dem besprochenen Band
Am Montag liest der Autor Passagen aus dem mittlerweile zum Kultbuch avancierten Werk.


Wien - Irgendwann Mitte der Achtziger des vorigen Jahrhunderts. Ein ehemaliger DDR-Bürger, der ein paar Jahre zuvor in den Westen gegangen war, besucht den Autor Lutz Rathenow in Ost-Berlin. Vieles an der Stadt gefällt ihm plötzlich, und so stellt sich der junge Bundesbürger wankelmütig die Frage, ob ein West-Berliner ins hiesige Zentrum ziehen dürfe. Sehnsuchtsvoller Nachsatz: "Man sieht förmlich, dass ihr nicht so unter Leistungsdruck steht."

Einzelne Fälle von Ostalgie grassierten also bereits lang vor dem Trabi-Kult und Goodbye Lenin, als die Mauer noch stand. Möglicherweise nicht ganz zu Unrecht, wie der kürzlich unter dem Titel Ost-Berlin. Leben vor dem Mauerfall wieder aufgelegte, in der DDR seinerzeit umstrittene Band von Lutz Rathenow und dem Fotografen Harald Hauswald trotz allem Grau in Grau nahe legt. Mit ein bisschen Erfindungsgeist, so beweist das Buch, ließ es sich selbst für systemkritische Intellektuelle in der DDR durchaus aushalten. Speziell in deren auch östlich der Mauer nicht ganz so verschlafenen Hauptstadt.

Rathenow und Hauswald zeichnen ein ungewohntes Bild vom DDR-Dasein, das weder das vom bösen Stasi-Staat noch das ostalgische von der lustigsten Diktatur der Welt bedienen will. Sie konzentrieren sich vielmehr auf das so genannte normale Leben, wie es auch im Osten stattfand.

Dieses Leben war in bestimmten Ecken Ost-Berlins in den Achtzigern schon recht massiv von subkulturellen Strömungen aus dem Westen beeinflusst. In kleinen Nischen wurde ein besseres Leben als das staatlich verordnete versucht. Auch eine Hausbesetzerszene gab es, wenn sie auch weit stiller agierte als im anderen Teil der Stadt.

Eine Kneipe am Prenzlauer Berg zeigte damals: "Weniger Punks, Skinheads, zahlreiche proper und poppig herausgeputzte New-Wave-Typen. Althippies, die sich nicht modisch zurechtstutzen wollen. Vermischt mit eifrig redenden Malern und künftige Projekte ausmalenden Dichtern." Ein paar Woche später wurde das Lokal renoviert, und eine "nächsthöhere Preisklasse" zog ein. Ganz wie auf der anderen Seite der Mauer, ja im Prinzip ein heute noch gültiges Szenario eigentlich!

Aufmüpfige Kultur wurde in den letzten Jahren der DDR von der Staatsmacht zumeist stirnrunzelnd geduldet. Explizite Auftrittsverbote gab es nur noch selten, weshalb in privaten, kirchlichen, aber auch in staatlichen Gebäuden eine Veranstaltungsszene zwischen kritischem Theater und Sponti-Happening blühte. Sein Tun anzukündigen traute sich dennoch kaum jemand: "Im Westen verwendet und verschwendet man Energie, um die eigene Arbeit bekannt zu machen. Hier, damit etwas nicht zu bekannt wird."

Leichte Prügel

Ein Leben im Paradoxon. Wenn doch einmal die Polizei einschritt, prüfte sie erst lang und breit die Ausweise der verdächtigen Personen, ehe es allenfalls leichte Prügel setzte. Generell seien DDR-Polizisten kultivierter gewesen als ihre westlichen Kollegen: "Einer kennt einen Polizisten, der sich schämt, in Uniform herumzulaufen. Er lässt sich nur nachts zum Dienst einsetzen, da sieht ihn kein Bekannter." Melancholie und Alkoholismus waren in der DDR wohl nicht umsonst weit verbreitet.

Schlechter sah es für jene Kulturtreibenden aus, die bereits früher auffällig und mit einem Verbot belegt worden waren. Lutz Rathenow selbst etwa konnte seit seiner ersten Buchveröffentlichung 1980 nur mehr im Westen publizieren. Auch der 1987 veröffentlichte Fotoband Ost-Berlin erschien deshalb auf der anderen Seite der Mauer, im Münchner Piper Verlag. Ein Affront war das Buch für die DDR-Behörden vor allem deshalb, weil es die Stadt zu ihrem 750. Geburtstag anders zeigte, als offizielle Fotos von spielenden Kindern und Blumenbeeten vor Plattenbauten es gern vermittelt hätten.

Dass es sich in Wahrheit um eine Liebeserklärung an Ost-Berlin handelte, konnte oder wollte im Osten damals nicht nachvollzogen werden. Schon den Titel mussten Offizielle als eine Provokation werten: "Ost-Berlin" wurde die Stadt nur im Westen genannt, die behördlich korrekte Bezeichnung lautete "Berlin - Hauptstadt der DDR". Wie sehr Lutz Rathenow Ost-Berlin geliebt hat und was für ein lästiger Zeitgenosse er war, zeigt die Tatsache, dass ihm von offizieller Seite mehrfach die Ausreise in den Westen angeboten wurde. Er lehnte immer wieder ab. Rathenow lebt heute nach wie vor in Berlin. Der DDR weint er keine Träne nach. Der Osten aber, weiß er, wird gerade wegen seines hastigen Verschwindens noch lange weiter existieren. (DER STANDARD, Printausgabe, 05.12.2005)