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Ein Chemiker des Bundeskriminalamtes öffnet ein abgefangenes Kokain-Paket. Heuer hat die Polizei bereits mehr "Schnee" aus dem Verkehr gezogen als je zuvor.

Foto: dpa/Thissen
Kokain ist längst mehr als eine Schickimicki-Droge, die durch die Nase geht. Immer öfter wird das Suchtmittel intravenös konsumiert. Die Polizei erwartet für heuer einen Rekord an sichergestelltem "Schnee".

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Wien – Geschnupft, geraucht, gegessen, gespritzt – so vielfältig die Konsumationsmöglichkeiten von Kokain sind, so breit gestreut ist auch die Klientel des weißen Pulvers: Ärzte, Journalisten, Immobilienmakler, Politiker, Anwälte, Profisportler, Societylöwen und -löwinnen. Vor allem Berufsgruppen mit hohem Stressfaktor und freier Arbeitszeiteinteilung lassen die Nachfrage nach dem illegalen Muntermacher nicht verebben. Und Nachschub gibt es mehr als genug, wie die jüngste Sicherstellung von 30 Kilogramm Koks am Wiener Flughafen beweist.

Für die heimische Polizei wird 2005 ein Kokainrekordjahr. Im Jänner waren in einem Lagerhaus in Graz 140 Kilogramm des Suchtgiftes entdeckt worden, es folgten mehrere Sicherstellungen am Wiener Flughafen jenseits der 20-Kilo-Marke. Zum Vergleich: Im gesamten Vorjahr beschlagnahmte die Polizei österreichweit 75 Kilo "Schnee" im Straßenhandelswert von sieben Millionen Euro.

Spuren im Rhein

Wie viele Menschen regelmäßig Kokain konsumieren, weiß niemand. Für Österreich liegen die Schätzungen zwischen 20.000 und 40.000 Personen. Diese Zahlen basieren weltweit aber meist auf Befragungen. Bei Analysen von Kokain-Abbauprodukten in Flüssen zeigten sich heuer in Italien, Großbritannien und Deutschland allerdings andere Resultate. Die Ergebnisse der Rheinwasseruntersuchung etwa deuten darauf hin, dass nicht, wie offiziell angenommen, 0,8 Prozent der Bevölkerung koksen, sondern zwei- bis dreimal so viele Deutsche.

Warum Kokain europaweit boomt? "Weil die Droge so gut in die heutige Gesellschaft passt", meint Gerhard Schinnerl, der Leiter des Vereins Wiener Sozialprojekte (VWS), der zahlreiche Drogenhilfseinrichtungen betreibt. Kokain putscht auf, übersteigert das Selbstwertgefühl, steigert die Libido, zügelt den Appetit und macht schmerzunempfindlich. Die überaus gefährliche Kehrseite der Medaille: rasche psychische Abhängigkeit, Depressionen, Psychosen, Panikattacken, Herz- Kreislauferkrankungen, hohe Beschaffungskosten, strafgesetzliche Konflikte.

Kokain ist nicht nur eine Schickimicki-Droge, die durch die Nase geht. In der Wiener Straßenszene wird das Suchtmittel hauptsächlich intravenös konsumiert. Ein spezielles Problem sind laut VWS regelmäßige exzessive Konsumphasen: bis zu zwanzig Mal pro Tag.

Gefährlicher Koka-Run

In dieser Phase, auch Koka-Run genannt, schlafen, essen, und trinken die Klienten wenig bis gar nichts. Das hat enorme soziale und medizinische Auswirkungen. Durch den hohen Geldbedarf entstehen oft kurzfristig hohe Schulden und eine verstärkte Delinquenz durch Beschaffungskriminalität. Dazu kommt ein erschreckendes Ausmaß an Verletzungen. Grund dafür ist nicht nur die lokalanästhetische Wirkung von Kokain, sondern auch die völlige Vernachlässigung der körperlichen Sorgfalt. Irgendwann und irgendwo kommt es schließlich zum körperlichen und psychischen Zusammenbruch. Mediziner und Sozialarbeiter des VWS sind überzeugt davon, dass Konsumräume mit medizinischer Akutbetreuung für viele Junkies lebensrettend sein könnten. Was fehlt, ist das politische Ja. (simo, moe, DER STANDARD – Printausgabe, 22. November 2005)