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Der ehemalige Hohe Repräsentant in Bosnien-Herzegowina, Wolfgang Petritsch, spricht über den Zustand des Landes zehn Jahre nach dem Friedensvertrag.

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Wolfgang Petritsch glaubt, dass Bosnien-Herzegowina durch die EU-Annäherung zusammenwachsen wird. Zum zehnten Jahrestag der Friedensvereinbarung von Dayton sprach Adelheid Wölfl mit dem ehemaligen Hohen Repräsentanten.

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Standard: Drei Regierungen, 160 Minister, drei Präsidenten. Wie soll eine Verfassungsreform in Bosnien aussehen?

Petritsch: Es wird auch in Zukunft keinen großen Wurf einer Verfassungsreform geben. Mit dem bevorstehenden Beginn der Stabilisierungs- und Assoziierungsverhandlungen hat die EU aber nun ein Instrument zur Hand, das die bis dato durch den Hohen Repräsentanten ausgeübten Durchgriffsrechte sukzessive ersetzen kann. Bei den vielen Anpassungen, die für eine EU-Annäherung nötig sind, wird man sehr rasch an die Grenzen der derzeitigen Verfassung stoßen. Ich bin zuversichtlich, weil ich erlebt habe, dass die drei Völker ein Gedanke eint und der heißt Europa.

Standard: Festigt es nicht das "ethnische Prinzip", wenn die politischen Funktionen immer noch nach einem ethnischen Schlüssel besetzt werden?

Petritsch: Dieser ethnische Proporz war notwendig in einem Land, dessen Bürger durch diesen "Bruderkrieg" jedwedes gegenseitiges Vertrauen verloren haben. Mit der langsamen Rückkehr des Vertrauens - etwa in die Polizei, die Verwaltung - können auch die verfassungsrechtlichen Strukturen vereinfacht werden. Das Mravkovica-Sarajewo-Abkommen, das ich 2002 durchgesetzt habe, hat erst Bosniaken und Kroaten den Serben in der Republika Srpska gleichgestellt; dasselbe gilt für Serben in der kroatisch-muslimischen Föderation, der zweiten Entität.

Standard: 40 Prozent der Bosnier sind arbeitslos, die Schattenwirtschaft liegt bei 20 Prozent. Hat die internationale Gemeinschaft hier versagt?

Petritsch: Man muss sich in Erinnerung rufen, wie das Land nach dem Krieg dastand: über 200.000 Tote, mehr als zwei Millionen Vertriebene, 90 Prozent der Infrastruktur zerstört. In Bosnien hat auch eine vollständige Deindindustrialisierung stattgefunden. Denn die Wirtschaft war vor dem Krieg ganz auf Schwerindustrie und Waffenproduktion ausgerichtet. Der Wiederaufbau hat auch unter dem neoliberalen Dogma der vollständigen Privatisierung und Marktöffnung gelitten. Es wäre sinnvoller gewesen, einen gewissen staatlichen Protektionismus beizubehalten, bis sich die Wirtschaft im Land erholt hat.

Standard: Ihr Nachfolger Paddy Ashdown hat drei Politiker rehabilitiert, die Sie entlassen haben. Haben Sie die Vollmachten zu oft benutzt?

Petritsch: Die drei Politiker wurden rehabilitiert, weil sie keine Gefahr mehr für die Umsetzung des Friedensvertrages darstellen. Sie und andere wurden von mir entlassen, weil sie sich der Rückkehr der Flüchtlinge widersetzt haben. Über eine Million sind nun zurück, Ashdown hat nun zurecht und mit meiner Unterstützung gehandelt. Ich habe jedes Mal, wenn ich meine Befugnisse genützt habe, deutlich gemacht, dass dies kein guter Tag für die bosnische Demokratie sei. Und trotzdem war das damals notwendig, um die Wiederherstellung grundlegender Menschenrechte zu garantieren.

Standard: Im Mai 2002 haben Sie gesagt: Karadzic und Mladic werden bald gefasst. Glauben Sie das selbst noch?

Petritsch: Das ist wohl die größte Enttäuschung und ein Hindernis für die Normalisierung. Aber solange Karadzic und Mladic von Teilen der serbischen Bevölkerung als "Helden" angesehen werden, genießen sie einen schwer zu durchbrechenden Schutz. Einerseits liegt hier ein Versagen der Nato vor, andererseits fehlt Politikern der Mut, den etwa Djindjic gehabt hat, als er Milosevic an Den Haag auslieferte. Das Kriegsverbrechertribunal vermittelte auch nicht, dass Frieden Gerechtigkeit und Wahrheit voraussetzt.

Standard: Die Leute tragen heute noch T-Shirts mit Bildern von Karadzic und Mladic.

Petritsch: Das ist bedenklich, weil es unser Versagen zeigt, die Hintergründe dieses tragischen Konfliktes zu erklären, vielfach ist es wohl auch Zeichen eines ohnmächtigen Protestes. Ähnliches soll es ja gelegentlich auch bei uns geben. (DER STANDARD, Printausgabe 21. 11. 2005)