"Die Presse" hat sich keinen so großen Gefallen getan wie erhofft, als sie sich von Andreas Unterberger trennte, denn immer deutlicher wird in der "Wiener Zeitung" sichtbar, welche Talente genügen, um im Paradeblatt des hiesigen Bürgertums jahrelang als Chefredakteur zugelassen zu werden. Das kann Unterbergers Nachfolger nicht angenehm sein, ist aber nicht mehr zu reparieren, seit der Kanzler zugeschlagen hat, um eine Person seines politisch-moralischen Zuschnitts zum Chefredakteur der "Wiener Zeitung" zu erheben und dem Amtsblatt der Republik über dessen nicht ganz unpolitisches Tagebuch die politische Linie der allein regierenden Volkspartei zu vermitteln.

Dass Unterberger die Gewerkschaften und die Sozis nicht mag, muss nicht extra betont werden und war zu erwarten. Ist ja keine Verpflichtung. Aber auch die Grünen erscheinen ihm nicht so angepasst, wie Schüssel sie gerne hätte. Sie können es Unterberger einfach nicht recht machen. Dass die SPÖ Streikdrohungen der Eisenbahner unterstützt, ist verständlich und war zu erwarten. Rätselhaft ist aber die Solidarität der Grünen. Denn ihre Wähler sind soziologisch am weitesten von den Eisenbahnern entfernt. Dass das Genie des Reformers Gorbach auch andere als wahltaktische Gründe für Solidarität denkbar erscheinen lässt, erschien Unterberger am Freitag undenkbar.

Zwei Tage zuvor war es umgekehrt. Da handelten die Grünen in vollem Einklang mit der ihnen zugebilligten Klientel - und trotzdem falsch. Dass die Uni-Rektoren alle ihre finanziellen Wünsche erfüllt bekommen, ist erstaunlich. (Etwa gar ein Hauch von Regierungskritik?) Alexander Van der Bellen wird sich jedenfalls nach einem neuen Stehsatz umschauen müssen. Denn ihn hat man ja auch nach dem Wetter fragen können und gebetsmühlenartig stets die angebliche Finanznot der Unis zur Antwort bekommen. Wo er zufälligerweise besonders viele Wähler hat.

So sind sie eben, die Grünen, unverlässlich. Und nein, natürlich liegt nicht einmal ein Hauch von Regierungskritik über Unterbergers Tagebuch: Die Finanznot der Unis war ja nur angeblich! Dass ihre Behebung erst nach dem Wahltag beginnt, ist hingegen geeignet, als skurriles Beispiel ins Buch undurchschaubarer politischer Taktik einzugehen, gibt sich Unterberger, der doch sonst alles durchschaut, gern geschlagen. Bei jeder anderen Regierung hätte er vielleicht doch durchschaut, dass undurchschaubare politische Taktik nicht der richtige Ausdruck dafür ist, Universitäten erst herunterzuwirtschaften, ihre angebliche Rettung im Wahlkampf als kleines österreichisches Wunder zu verkaufen - und ihre Sanierung einer künftigen Regierung zu hinterlassen.

Und damit die Grünen nicht übermütig werden, wurden sie gleich per Karikatur als Agenten des Kommunismus entlarvt, weil einer von ihnen es gewagt hatte, die Wahrscheinlichkeit einer Koalition mit der Schüssel-ÖVP in Relation zu deren papistischer Bündnistreue zu setzen. In diesem Sinne musste der Grüne Erich Eder auf die Frage Sie wollen das Konkordat abschaffen? so antworten, wie das Moltofon es am Tag zuvor befohlen hatte: Religion hat heute ausgedient! Als Ersatz könnt' ma' in Wien ja ein Lenin-Mausoleum errichten . . . Die Russen wollen ihn eh loswerden. Wilhelm Molterer im O-Ton: "Linke Fundis" hätten Van der Bellen die Zügel aus der Hand genommen. Das Lenin-Mausoleum war dann eine Fleißaufgabe der "Wiener Zeitung".

Gerechtigkeit war am Wochenende auch für die Zeit-im Bild-Moderatorin, die ein SPÖ-Wahlinserat unterzeichnet hat, gefordert. Für sie möge im ORF dasselbe gelten wie für den bekennenden Freiheitlichen und ORF-Chefredakteur Walter Seledec, von dem Unterberger lediglich berichtet, dass er die Todesanzeige für Friedrich Peter mitunterzeichnet hat, aber verschweigt, dass er nicht nur bei Parteitagen der Strache-FP offiziell als Delegierter begrüßt wurde und am Grab des Nazi-Fliegers Walter Nowotny dessen Verdienste gedachte. Die bestanden darin, in Begeisterung für Adolf Hitler etliche gegnerische Flieger abzuschießen, die ihr Land gegen die Nazi-Wehrmacht verteidigten, also für eine anständige Sache kämpften.

Einen Fanatiker der Sauberkeit und Trennung von Parteien wie Unterberger muss es daher empören, wenn der Redakteursrat des ORF nicht imstande ist zu erkennen, dass die Verharmlosung einer demokratischen Partei durch Unterzeichnung ihres Wahlinserates ein nicht weniger schlimmes Vergehen ist wie die Verherrlichung eines pflichtbewussten Nationalsozialisten als "mutigen, kameradschaftlichen, tüchtigen Soldaten", und daher auch gleich zu ahnden.

Und ein noch größerer Beitrag zur Glaubwürdigkeit wäre es, wenn man dem Redakteurssprecher des ORF nicht in jedem Satz seine lange Zugehörigkeit zur "Volksstimme" anmerken würde. Wenn man hingegen dem Regierungssprecher der "Wiener Zeitung" seine lange Zughörigkeit zur "Presse" anmerkt, ist das an Glaubwürdigkeit nicht mehr zu überbieten. (DER STANDARD; Printausgabe, 15.11.2005)