Foto: Wiener Staatsoper GmbH / Axel Zeininger
Wien - Aufgrund der immer ferner zurückliegenden Zeiten ihrer gesellschaftlichen und künstlerischen Relevanz erlebt man Oper heute oft als mal besser, mal schlechter wieder nachgestellte Kunstform, die ihrer sinnlichen wie Sinn machenden Füllung verlustig gegangen ist. Man sieht und hört alles gut oder weniger gut passieren, fühlt dabei aber eine Leere, man misst die Nabelschnur, die zum geistigen und emotionalen Zentrum des Werks führte.

So nahm man bei der ersten Aufführung der aktuellen Lulu-Serie Marlis Petersen als leichtgewichtige Lulu wahr, Franz Grundheber als kernigen Dr. Schön, Arnold Bezuyen als stimmfesten Alwa, doch Sinn und Botschaft des Werks traten kaum an einen heran. Bezüglich des Staatsopernorchesters (Leitung: Michael Boder) konnte man das künstlerische Glas halb leer oder halb voll finden - also einem packenden, außergewöhnlichen Musikerlebnis nachsehnen oder eine doch noch respektable Wirkung konstatieren.

So saß man also und schaute mehr als dass man sah und dachte mehr als dass man hörte, und im Ende schien einem die authentischste Figur des Abends noch jene des Operndirektors gewesen zu sein, der am Ende von der Loge aus generös Applaus gespendet hatte. Neben Ioan Holender sah man Seiji Ozawa - heftig - Beifall zollen.

Unlängst hatte der Musikdirektor selbst die musikalischen Berg-Fäden in der Hand gehalten: beim Wozzeck. Das Orchester, beim Gros des Opernrepertoires eher Jumbojet-mäßig die unendlichen Weiten des Großgefühls durchbretternd, hat sich beim Wozzeck in eine Flotte kleiner Kunstflugzeuge aufzuteilen und so die schnellsten, bizarrsten Volten der Emotion zu fliegen.

Keine leichte Sache, dies. Flottenadmiral Ozawa koordinierte flink; ins Ohr springende Drastik misste man, die wenigen vulkanischen Emotionseruptionen gegen Ende von Bergs Piano-Oper hingegen gelangen saftigst. Mehr als der kernige Wozzeck Falk Struckmanns, die damenhaft geile Marie Deborah Polaskis und der kraftprotzende Tambourmajor Wolfgang Schmidts war jedoch die schrecklich schöne Adolf-Dresen-Inszenierung der Star des Abends: Eine, die ins Herz des Stücks blicken macht und es begreifen lässt, wie am ersten Tag. (DER STANDARD, Printausgabe, 15.11.2005)