Paris/London/Zürich - Die Einigung zwischen Union und SPD über die Bildung einer schwarz-roten Koalitionsregierung in Deutschland ist am Samstag Gegenstand zahlreicher Pressekommentare:
  • "Le Figaro" (Paris):

    "Das Programm der Koalition ist bedauerlicherweise sehr bescheiden. Doch dies ist kein Beweis für die Handlungsunfähigkeit in Deutschland, im Gegenteil. Unser großer Nachbar hat mit einem Mindestmaß an Unruhe einen radikalen politischen Übergang geschafft, dessen Auswirkungen weit über diese oder jene Haushalts- oder Steuerbestimmung hinausgehen. Eine neue Generation hat die Kommandoposten übernommen, links wie rechts, mit Angela Merkel als erster Frau im Kanzleramt und der erwarteten Wahl von Matthias Platzeck an die Spitze der Sozialdemokratischen Partei. Während in Frankreich, Großbritannien und Italien ein schwieriger und schmerzhafter Übergang bevorsteht, hat Deutschland es schon geschafft."

  • "Corriere della Sera" (Mailand):

    "Zum ersten Mal seit vierzig Jahren wird Deutschland wieder von einer Großen Koalition geführt. (...) Es handelt sich um einen historischen Schritt für die Bundesrepublik, die in einer der schwierigsten Phasen der Nachkriegszeit nun die Kraft und die Vernunft findet, die ökonomische und soziale Krise geeint anzugehen. Zugleich hat sich eine Revolution ohne Beispiel vollzogen, der durch den Aufstieg von Angela Merkel ins Kanzleramt symbolisiert wird. Sie ist die erste Frau sowie die erste Person, die aus dem ehemaligen Ostdeutschland kommt, die nun den Posten einnimmt, den einst Konrad Adenauer und Willy Brandt besetzt hatten."

  • "Financial Times" (London):

    "Zwei Monate nach nicht eindeutigen Wahlen ist die Vereinbarung ein fein austarierter Kompromiss zwischen den rivalisierenden Parteien der Sozialdemokraten und der Christdemokraten. Mit dem Abkommen, das eine Rückkehr zum finanziellen Konservativismus verkündet, zielt die Koalition darauf ab, in den nächsten zwei Jahren das Defizit um 35 Milliarden Euro zu kürzen und es zum ersten Mal in fünf Jahren unter die 3-Prozent-Marke des Bruttosozialprodukts zu bringen. (...) Das Abkommen macht eine Änderung der Prioritäten für Merkel deutlich. Während ihre Wahlkampagne sich auf die Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit konzentrierte, wird dieses Ziel nun an die zweite Stelle hinter die finanzielle Konsolidierung rücken."

  • "Der Tagesanzeiger" (Zürich):

    "Freuen mag sie sich noch immer nicht. Angela Merkel ist ein prosaische Frau. Das liegt an ihrer Person - das passt zum Land, das nun von einer Großen Koalition regiert werden wird. Mit dem Bündnis verbunden war ursprünglich die Hoffnung, die Regierung werde auch Großes bewegen. Doch noch bevor die Regierung gewählt ist, macht sich in Deutschland Katzenjammer breit. Schon wieder, ist man versucht zu sagen. Denn Deutschland leidet nicht nur unter Arbeitslosigkeit, Verschuldung und mangelndem Wirtschaftswachstum. Deutschland leidet unter einer Mehltau-Stimmung, die über dem Land liegt. Die Lust am Schlechtreden zertritt jede aufkeimende Hoffnung, noch bevor klar ist, was aus der Pflanze werden könnte."

  • "Luxemburger Wort":

    "Der Koalitionsvertrag ist unter Dach und Fach. Damit sind die Weichen dafür gestellt, dass Deutschland bald eine handlungsfähige Regierung erhält. Angesichts der völlig verfahren scheinenden Lage nach den Bundestagswahlen ist dies eine erfreuliche Nachricht nicht nur für die Bundesrepublik, sondern ebenso für ihre Nachbarn. Im Gegenzug müssen Deutschlands Bürger jedoch eine Vielzahl von Opfern bringen (...) Erste Opfer haben die beiden Koalitionspartner Union und SPD erbracht: Sie müssen wohl oder übel die 'Grausamkeiten' der anderen Seite (Stichwort: Mehrwertsteuer bzw. 'Reichensteuer') übernehmen und auf Wohltaten zu Gunsten der eigenen Wählerklientel verzichten. Diese große Koalition war ursprünglich nicht gewollt, wie CSU-Chef Edmund Stoiber gestern festhielt. Doch vielleicht gerät die Not, konträre Standpunkte zu überbrücken, am Ende noch zur politischen Tugend."

  • "die tageszeitung" (taz) (Berlin):

    "Die Verhandlungsführer hatten sich noch kaum zwanzig Minuten getroffen, da drangen bereits die ersten Ergebnisse nach draußen. Das ist nicht überraschend. Schon vor der Sitzung erwartete niemand mehr, dass die Koalition scheitern könnte. Es ging sowieso nur noch um Tauschgeschäfte der symbolischen Art (...) Diese neoliberale Angebotspolitik ist nicht neu. Sie setzt nur anders fort, was schon in der letzten Legislatur üblich war. Die Stichworte sind: gesenkter Spitzensteuersatz für die gut Verdienenden, Sozialhilfe für alle Langzeitarbeitslosen. Nun wird die Ungleichheit in Deutschland weiter verschärft. Diese Kontinuität ist nur logisch - schließlich ist die Große Koalition keineswegs neu. Faktisch besteht sie schon seit zehn Jahren; mit einer kleinen Unterbrechung herrschen im Bundesrat seit elf Jahren immer andere Mehrheiten als im Bundestag." (APA/dpa/AFP)