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Ein Staat habe das Recht, mit dem Kopftuchverbot den Säkularismus "als Garant demokratischer Werte" zu schützen, so das Europa-Gericht.
Foto: APA/dpa/Carmen Jaspersen
Istanbul - Gescheit, selbstbewusst - und fromm: Leyla Sahin ist eine Frau ganz nach dem Herzen des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner AnhängerInnen. Die heute 32-jährige Sahin wollte als Medizinstudentin in den Hörsälen der Istanbuler Universität 1998 partout nicht auf ihr Kopftuch verzichten und musste deshalb ihr Studium abbrechen. Inzwischen lebt sie in Wien und kämpft von dort aus gegen das Kopftuchverbot in ihrer türkischen Heimat, das auch aus Sicht der Regierung Erdogan abgeschafft gehört. Doch am Donnerstag mussten Sahin und Erdogan eine schwere Niederlage einstecken: Das Europäische Menschenrechtsgericht in Straßburg bestätigte in einem höchstinstanzlichen Urteil das Kopftuchverbot in der Türkei.

"Affront" gegen die Frauen

Obwohl er als Regierungchef das Land regiert, ist Erdogan in der Kopftuchfrage in der Oppositionsrolle. Seine islamisch geprägte Regierungspartei AKP hat ihren Wählern versprochen, das Kopftuchverbot in staatlichen Einrichtungen zumindest zu lockern, konnte sich bisher damit aber nicht durchsetzen. Erdogan argumentiert, dass die allermeisten Frauen in der Türkei das Kopftuch aus Tradition tragen, ohne damit eine politische Aussage zugunsten des radikalen Islam zu verbinden. Das Kopftuchverbot sei deshalb eine Diskriminierung; Parlamentspräsident Bülent Arinc, ein Parteifreund Erdogans, sprach erst vor einigen Tagen von einem "Affront" gegen die Frauen in der Türkei.

Kopftuchverbot schützt Säkularismus

Erdogans GegnerInnen in der Türkei und auch die Europa-RichterInnen in Straßburg sehen das anders. Das Kopftuch habe in der Türkei politische Bedeutung erlangt, urteilte das Menschenrechtsgericht. Ein Staat habe das Recht, mit dem Kopftuchverbot den Säkularismus "als Garant demokratischer Werte" zu schützen. Schließlich gebe es in der Türkei radikalislamische Bewegungen, die aus dem Land einen Gottesstaat machen wollten.

Unterstützung der EU

Besser hätten es die AnhängerInnen des Kopftuchverbots in der Türkei auch nicht formulieren können. Militärs, Staatspräsident, große Teile der Bürokratie und die wichtigste Oppositionspartei im Parlament haben bisher eine Lockerung des Verbots verhindert - jetzt können sie außerdem auf die Unterstützung aus Europa verweisen. Als Mitglied des Europarats ist die Türkei an Urteile des Straßburger Menschenrechtsgerichts gebunden.

Besonders das Nein der Armee hat Erdogan dazu bisher bewogen, beim Thema Kopftuch auf eine Machtprobe zu verzichten. Schließlich sehen sich die türkischen Militärs als Wächter der säkularen Staatsordnung und haben seit 1960 dreimal gegen gewählte Regierungen geputscht. Als Folge dieser Zwänge muss Erdogans Regierung einen seltsamen Seiltanz vollführen: Als Vertreterin der offiziellen Haltung des türkischen Staates verteidigte die Regierung das Kopftuchverbot vor dem Straßburger Gericht, obwohl sie es zu Hause abschaffen will.

Während Erdogan am Donnerstag einen Kommentar zum Straßburger Urteil ablehnte, erklärte Vize-Premier und Außenminister Abdullah Gül trotzig, das Kopftuch-Problem in der Türkei bleibe bestehen. "Auf Verbote sollte niemand stolz sein", sagte er. Dagegen erklärte die Opposition, Straßburg habe Erdogan eine Ohrfeige verpasst. Das Thema Kopftuch sei nun ein für allemal erledigt.

Verstärkter Druck

Zumindest für Erdogan selbst dürfte das aber nicht zutreffen. Der islamistische Flügel in Erdogans Partei AKP unterstützte das Europa-Projekt der Türkei bisher nicht zuletzt deshalb, weil sich die Religiösen von den europäischen Freiheitsnormen Vorteile für sich selbst versprachen - doch nun stützt Europa die LaizistInnen. Deshalb dürfte die Unterstützung innerhalb der AKP für das Ziel Europa sinken; Erdogan wird in der eigenen Partei verstärkt unter Druck geraten. Mustafa Karaalioglu von der regierungsnahen Zeitung "Yeni Safak" sprach am Donnerstag im türkischen Fernsehen bereits von einer großen Enttäuschung angesichts des Urteils. Europa habe versagt, kritisierte er. Schließlich gebe es keine entsprechenden Urteile, die sich gegen christliche Symbole wie das Kreuz richteten. (Susanne Güsten/APA)