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Die jugendlichen Aufrührer werfen Steine und Molotowcocktails gegen Feuerwehrleute und Polizisten. Schon knapp zwei Wochen dauern die gewalttätigen Ausschreitungen in ganz Frankreich an.

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Ein Auto brennt vor einem Hochhaus in Toulouse-Le Mirail.

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Unverständnis, Kopfschütteln, Konsternation: So reagieren nicht nur die Franzosen auf die Krawalle. Immer wieder kehrt die Frage zurück: Wer sind diese jugendlichen Gewalttäter? Woher kommen sie plötzlich, was wollen sie überhaupt?

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Die Soziologen und Politiker suchen noch nach präzisen Antworten für die Unruhen in den Banlieues. Derweil schießen wilde Behauptungen ins Kraut: Anarchisten steckten dahinter, Drogenbanden oder die Islamisten. Es handle sich um "organisierte" Gewalt, heißt es, oder in "Frankreich" herrsche "Djihad".

Das sind eher Fantasien als Fakten. In den französischen Banlieues herrscht in der Tat Anarchie - allerdings nicht erst seit dem Beginn der Krawalle vor zwölf Tagen. Diese Phänomene sind nicht neu. Sie sind genauso alt wie die Jugendarbeitslosigkeit - in einzelnen Vorstädten bei 30 bis 40 Prozent -, die ethnische Benachteiligung bei der Arbeits-und Wohnungssuche, Schulversagen, Alltagsgewalt und all die anderen Äußerungen der viel zitierten "Banlieue-Misere". Da erstaunt es fast, dass die Krawalle in dieser Form nicht schon früher ausgebrochen sind.

Und zwar spontan ausgebrochen - nicht "perfekt organisiert", wie Innenminister Nicolas Sarkozy behauptet. Den Funken ins Pulverfass lieferte er selbst mit seinen Bemerkungen über die "racaille", das Banlieue-Gesindel, nachdem die Stimmung in der Vorortsgemeinde Clichy-sous-Bois durch den Unfalltod zweier Minderjähriger bereits stark aufgeheizt war. Langsam scheinen sich diese Randalierer allerdings durchaus zu organisieren. Gemäß dem Kriminalchef des Justizministeriums, Jan-Marie Huet, sprechen sich die Autobrandstifter immer häufiger per Handy und Internet ab. Von einer "Koordination" - sei es durch irgendwelche Islamisten oder andere Rädelsführer - will Huet aber nicht sprechen.

Hinweise, dass sich in den französischen Banlieues etwas zusammenbraute, gab es in den letzten Jahren genug. Da war 2001 zuerst einmal das Fußballspiel Frankreich - Algerien: Maghrebinische Jungfranzosen buhten die "Marseillaise" gnadenlos aus und enterten das Spielfeld, sodass das Match abgebrochen werden musste.

Das schöne Bild vom multikulturellen Frankreich der "Black-Blanc-Beur", das bei dem französischen Fußball-WM-Titel von Zidane und Co 1998 ihren Höhepunkt erreicht hatte, war wieder im Eimer - doch die Franzosen schauten lieber weg, als sich zu hinterfragen, warum die Banlieue-Jugend die Nationalhymne auspfeift.

Ein Jahr später, also 2002, kam es zu einer Gewaltwelle gegen französische Juden; Synagogen brannten; Schüler mussten ihre Kippa unter einer Basketballmütze verbergen, um auf dem Pausenplatz nicht zusammengeschlagen zu werden. Behörden und Regierung reagierten prompt und erfolgreich dagegen, doch die Malaise blieb.

Jetzt rufen einige Jugendliche "Allah u-Akbar", wenn sie ihre Molotowcocktails in Schulen, Rathäuser oder Supermärkte werfen und Autos reihenweise abfackeln. Vom Koran haben sie aber so wenig Ahnung wie von der Verfassung des Landes, dessen republikanische Symbole sie ins Visier nehmen. In ihren Internetblog drücken die Banlieue-Randalierer gern ihren Hass auf die "Franzosen", manchmal auch die "Weißen" aus, obwohl sie ja auch französische Staatsbürger sind.

Gemeint ist wohl eher die westliche Konsumgesellschaft, von der sie sich schlecht behandelt und ausgeschlossen fühlen. Wenn sie Frankreichs Institutionen angreifen, dann vor allem, weil sie gerade in Frankreich wohnen, dem Land der Revolutionen, in dem die Straße mehr als anderswo eine Ventilfunktion bietet.

So wenig nationale Ursachen im Vordergrund stehen, so wenig wirken letztlich religiöse Motive. Der "arabische Antisemitismus" von 2002 widerspiegelte zwar für die vier Millionen Muslime und 600.000 Juden in vielem den Nahostkonflikt. Die Jugendlichen, die damals vor Synagogen brandschatzten und "vive Ramallah" schrieen, knöpfen sich nun Supermärkte in "Clichy-sous-Kosovo" vor.

Nein, statt nationaler oder konfessioneller Gründe hat die aktuelle Banlieue-Revolte ganz einfach soziale Motive. Sie standen am Ursprung der Pfiffe gegen die "Marseillaise", sie bewirkten die antijüdischen Attacken und sie nähren die jüngsten Gewaltakte. Diese Einsicht mag einfach klingen - aber sie ist vielleicht dazu angetan, die Lösungen wirklich dort zu suchen, wo das Problem liegt: nicht in Frankreich mit seinem Modell von Laizismus und "intégration", auch nicht im viel bemühten "Islam" - sondern in einem Europa, das meinte, der Multikulturalismus entstehe von selbst, die Einwanderermillionen integrierten sich von selbst. Die Banlieue-Krawalle zerstören diesbezüglich die letzten Illusionen. (DER STANDARD, Printausgabe, 8.11.2005)