Jacques Chirac hat sich doch noch überwunden: Frankreichs Präsident ist am Sonntagabend vor das Fernsehpublikum getreten, um "gewisse Maßnahmen" zur Polizeiverstärkung gegen die schweren Krawalle im ganzen Land anzukündigen. Die Nation musste auf diese wenigen und wenig verbindlichen Worte mehr als zehn Tage seit dem Gewaltausbruch warten.

Gewiss: Seit bald einem halben Jahrhundert in der Politik hat der alte Fuchs jederzeit noch ein paar Phrasen für die jeweilige Situation parat - jetzt bemüht er etwa "Respekt und Gerechtigkeit". Medien und Politiker mussten den Präsidenten aber fast auf die Treppen des Elysées zerren, bis er sich herabließ, ein paar Worte an die verunsicherten Bürger zu richten.

Genützt hat es natürlich nichts: Die Krawalle gingen in der Nacht auf Montag in unverminderter Schärfe weiter. Es ist, als ob Chirac den Ernst der Lage selbst nicht erkannt habe. Er macht weiter wie ein politischer Automat oder wie ein Autist, für den die Politik seit jeher ein einziges Mittel zum Zweck (den persönlichen Machterhalt) ist. Der Rest interessiert ihn offenbar weniger denn je. Seit 1995 Staatspräsident, hat er in zehn Jahren, wenn man von der Einführung der Berufsarmee und der Ansetzung von Atomversuchen im Südpazifik in seinem ersten Amtsjahr absieht, kaum mehr vollbracht, als sich und Frankreich altern zu lassen.

Zu dieser seltsamen Abwesenheit kommen erschwerend die quasimonarchischen Machtstrukturen in Paris. In dem streng hierarchischen System Frankreichs verhindern jahrhundertealte Mechanismen und Sitten, dass politische oder mediale Kritik dem Staatschef irgendetwas anhaben kann: Der Präsident ist unberührbar. Hat er sich physisch oder mental aus der Republik verabschiedet, wird das Machtvakuum an der Staatsspitze geradezu dramatisch. Und das ist besonders beunruhigend, wenn die Lage so explosiv ist wie jetzt. (DER STANDARD, Printausgabe, 8.11.2005)