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Max Friedrich ist Vorstand der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters.

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derStandard.at: In einzelnen Pariser Vororten ist in den vergangenen Tagen die Gewalt von Jugendlichen eskaliert. Lässt sich eigentlich eine steigende Gewaltbereitschaft von Jugendlichen insgesamt feststellen?

Max Friedrich: Die Brutalität nimmt sicher zu. Die Summe der Aggression ist zwar sicher gleich geblieben, aber die Ausprägung ist eine vielfältigere.

derStandard.at: Was sind die Ursachen für derartige Gewalteskalationen?

Friedrich: Um zu verstehen, wie sie entsteht und welche Ausprägung sie dann bekommt, muss man sich vier Ebenen anschauen: Die erste Ebene ist die körperliche Gewalt: Verbal reicht nicht mehr aus, also lässt man die Fäuste sprechen. Die zweite ist die intellektuelle Ebene, also die Ebene der Sprache, wo eine Verrohung festzustellen ist und damit verbunden eine sich immer weiter/schneller drehende Spirale. Es wird nicht mehr versucht, einen Konsens zu finden, sondern Konflikte werden auch im sprachlichen Bereich ausgekämpft. Das wiederum heizt dann auch die körperliche Auseinandersetzung an.

Dazu kommt die emotionale Situation, die sich ja häufig in ethnischen oder konfessionellen Problemen niederschlägt und - wie es sich in Frankreich zeigt - ganz offensichtlich auch historische Probleme, die immer dann aufflammen, wenn es Ländern oder Ethnien schlecht geht. Untersuchungen der psychologischen und soziale Wissenschaften haben ergeben, dass Gewalt entsteht, wenn Armut droht oder die sozialen Bedingungen schlechter werden.

Auch in der Politik kann man immer wieder beobachten, dass die Gesamtaggression in der Bevölkerung steigt, wenn das Besitztum gefährdet ist - etwa durch ungeschickte Wirtschaftspolitik, wie man sie jetzt beobachten kann, oder aber durch steigende Arbeitslosigkeit.

Schließlich kommt dazu, dass wir ja ununterbrochen mit Gewalt konfrontiert sind: Es gibt ja kaum einen Tag, an dem uns nicht mindestens ein Attentat irgendwo in der Welt bewusst gemacht wird. Bewusst gemacht heißt in diesem Zusammenhang, dass eine Realität im Unbewussten abgesenkt ruht und dann irgendwann die Bereitschaft entsteht sich auch dagegen zu wehren.

derStandard.at: Gewalt scheint eine sehr männliche Form zu sein, mit Unmut Verzweiflung oder ausweglosen Situationen umzugehen. Woher kommt das?

Friedrich: Grundsätzlich ist es sicher etwas männliches Muster, dass sich Agression in Gewalt ausdrückt. Ohne einem Darwinismus anzuhängen: Ich glaube schon, dass man da einer gewissen Biologie ruhig Rechnung tragen darf, denn die Menschheit hat in der Überlebensstrategie und beim Schutz und der Erhaltung des biologisch schwächeren Teils, nämlich der Frau, auf die Kraft des Mannes gesetzt - wenngleich die Frau in Wirklichkeit in der Emotion und in der Sozialisation die Stärkere ist.

Das zweite ist natürlich, dass Männer verführbarer sind für Gewalt und Agression. Was setzen sie ein? Zuerst kommen sicher die Fäuste, aber eben auch Waffen sind sicher in der Männerhand rascher eingesetzt als bei der Frau.

derStandard.at: Wie gehen weibliche Jugendliche mit diesen Problemen um?

Friedrich: Frauen, vor allem junge Frauen, lösen das in zwei Richtungen: Vor allem Autoagression, wir haben eine erhöhte Rate an Selbstverletzerinnen, aber auch Depressionen, die ja häufig passive Seite der Agression sind. Die Frau ist aber ganz sicher in der Sprache und der emotionalen und sozialen Verweigerung agressiver. Das ist also ihre Waffe.

derStandard.at: Aber auch bei Frauen scheint die Gewaltbereitschaft zu steigen, ist das ein richtiger Eindruck?

Friedrich: Bei weiblichen Jugendlichen trifft das sicher auch zu, weil natürlich ein gewisses Maß an "Unisex" entsteht und damit natürlich eine Nähe und Verwischung der klassischen Geschlechtsrollen, das ist gar keine Frage.

derStandard.at: Wie kann man damit umgehen?

Friedrich: Das Problem ist die massiv mangelnde Gesprächskultur sowohl in der Familie als auch in einer katastrophalen Schule, wie sie im Moment in Österreich vorherrscht.

Vor allem die norwegischen Modelle zeigen auf, dass Gewaltdeeskalation sehr wohl möglich ist, wenn man rechtzeitig genug anfängt und dafür auch Menschen zur Verfügung stellt. Ich glaube nicht, dass irgendwelche Metalldetektoren an Schuleingängen etwas helfen, sondern statt den Metalldetektoren gehören Menschen her. (sof)