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Vor zehn Jahren traf ich eine Frau, mit der ich anschließend viele Briefe tauschte. Die Freundschaft verebbte, und ich traf sie wieder kürzlich auf der Straße. Sie gab mir ihre Mailadresse und ich ihr meine. Uns wurde klar, dass wir uns in einer neuen Epoche wiederfanden.
Noch vor 50 Jahren konnte jeder Mensch davon ausgehen, dass er dieselbe Welt verlassen wird, die er angetroffen hat. Heute können bereits Dreißigjährige als Zeitzeugen auftreten, um den Jungen von "früher" zu erzählen. Und was sie zu berichten haben, hört sich stellenweise unglaublich an: "Früher" gab es zum Beispiel Fotoapparate, in die man Filme einlegen musste, die dann in einen speziellen Laden zur "Entwicklung" gebracht wurden. Es gab Telefone, die man nicht mitnehmen oder in die Tasche stecken konnte. Sie standen fest an einem Platz, und einige Modelle hatten sogar eine Wählscheibe, in die man den Finger hineinsteckte und bis zum Anschlag drehte. Das war manchmal eine schmerzvolle Angelegenheit, und man war sich nie sicher, ob man die richtige Nummer gewählt hatte. Aber dafür gab es an jeder Straßenecke kleine Kabinen, aus denen man anrufen konnte. Man nannte sie Münzfernsprecher. Eines dieser Dinger rettete übrigens einmal einer Figur in einem Horrorfilm von Alfred Hitchcock (ein altertümlicher Filmemacher) sogar das Leben.

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Wenn man vor zehn Jahren auf eine Party ging, machten gerade die Songs von solchen Methusalems wie Madonna, George Michael oder Prince Furore. Die Musik kam von LPs, die man heute als Vinylplatten bezeichnet. Wahrscheinlich, damit die Teenager sie leichter im Museum finden, wo sie neben den vielen anderen "primitiven Vorläufern der CD" ausgestellt werden.
Andererseits muss man fairerweise anmerken, dass es immer schon zum guten Ton gehörte, über die eigene Epoche zu jammern. Bereits 50 Jahre nach Christi kritisierte Seneca seine Zeit als die "habgierige und chaotische Zeitperiode, wo Menschen nur ans Geld denken". Giordano Bruno wurde am Ende der Renaissance von seinen Zeitgenossen für Behauptungen, die ihm heute Ruhm und Ansehen gebracht hätten, mit dem Scheiterhaufen bestraft. Und dennoch würden es sich die beiden Genies sicherlich zweimal überlegen, ob sie heute das Leben eines Konsumenten führen wollten.

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Immerhin hat unsere Epoche auch ein paar Widersprüche aufzuweisen: Wie kann es zum Beispiel sein, dass auf der einen Seite die modernen Labors des 21. Jahrhunderts lebensrettende Medikamente produzieren, wo auf der anderen in der Verfassung eines demokratischen Staates wie Holland erstmals das Recht auf Euthanasie festgeschrieben wurde? Wie ist es möglich, dass der Mensch, der statistisch gesehen noch nie über so viel Freizeit wie heute verfügte, permanent im Stress ist? In Japan wächst sogar eine besondere Schicht von Workaholics heran, deren Laufbahn mit "karoshi", dem Tod am Arbeitsplatz, endet. Auch unsere Kleinen führen ein merkwürdiges Leben. Im Schnitt verbringt heute ein westliches Kind sechs Stunden vor der Playstation oder dem Fernseher.

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Dass es davon physische und psychische Störungen davonträgt, ist geradezu logisch. Die neueste Modekrankheit heißt ADHD-(Attention Deficit Hyperactivity Disorder)-Syndrom. Der Unglückliche, der davon befallen wird, kann weder sitzen noch stehen, er muss dauernd in Bewegung bleiben. Kürzlich sprang der fünfjährige Jeff aus New York aus dem Fenster seines Kinderzimmers, das im zwanzigsten Stock war, auf die Straße. Er ahmte seine Lieblingsvideospielfigur nach, die von Hochhäusern sprang, um sich auf das gegenüberliegende Gebäude zu katapultieren. Und sogar der Begriff des Glücks wird heute anders definiert als zu Senecas Zeiten. Neulich fragte mich jemand nach meiner Handynummer. Als ich zugab, keines zu besitzen, erntete ich einen neidischen Blick. "Du Glückspilz", lautete die Antwort.

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Dennoch wäre es falsch, die Schuld den Playstations, den Handys oder den Autos mit sich selbst regelndem Differenzial zuzuschieben. Wo liegt also das Problem? Genau dort, wo auch seine Lösung liegt. Der Konsument von heute trägt im Kopf ein Gehirn, das biologisch gesehen identisch ist mit dem vor hunderttausend Jahren. Dieses hunderttausend Jahre alte Gehirn hat zwar einen Mikrochip und den Halbleiter erfunden, kann aber, so scheint es, die Früchte seiner Arbeit nicht konsumieren, ohne dabei Schaden zu erleiden. Eine der fundamentalsten physiologischen Eigenschaften des menschlichen Denkorgans ist die Fähigkeit, nur eine begrenzte Anzahl von Reizen aufzunehmen. Diese natürliche Aufnahmegrenze, die als Schutzmaßnahme funktioniert, soll verhindern, dass das menschliche Gehirn seinen Dienst versagt. Paradoxerweise wird sie heute nur noch von Werbeprofis ernst genommen. Ein Creative Director einer großen Werbeagentur verkündete stolz, dass seine Firma daran arbeite, diese Schwelle im Hirn zu unterwandern, indem sie den Konsumenten auf unbewusster Ebene erreicht. Dieser Mann verdiente übrigens ein Vermögen.

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Eine andere Grenze, die der Mensch erst kürzlich überschritten hat, hat mit dem Verlust des Territoriums zu tun. Der englische Anthropologe Desmond Morris rechnete aus, dass in den vergangenen zwei Millionen Jahren auf einer Fläche von New York an die hundert Menschen lebten. Jetzt sind es sieben Millionen, die nebeneinander auskommen müssen. Es ist also wieder einmal der Mensch, der die Epoche zur Hölle macht und nicht umgekehrt. Dennoch wäre es falsch, unsere Epoche derart abzukanzeln. Sie hat eine Menge Gutes hervorgebracht. In einem hat sie es sogar zur Meisterschaft gebracht: dem Erfinden von mahnenden Slogans. Zu Warnrufen wie "Rettet die Ozonschicht" oder "Atomkraft, nein danke" könnte man ruhig noch einen weiteren dazustellen: "Schützt das menschliche Gehirn." Am meisten vor sich selbst.

(Radek Knapp/Der Standard/rondo/28/10/2005)

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