Brüssel/Straßburg - Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) hat einen neuen Entwurf für die umstrittene EU-Dienstleistungsrichtlinie gefordert. Der Grund dafür sei, dass die Situation durch die "über 1.000 Änderungsanträge" im EU-Parlament "zu unübersichtlich" geworden sei, meinte Schüssel beim Sozialpartnergipfel in London am Montag., wie seine Sprecherin Verena Nowotny am Dienstag zur APA sagte. Die EU-Kommission solle nun einen völlig überarbeiteten Entwurf der Richtlinie vorlegen.

Nach Meinung Schüssels soll durch einen neuen Entwurf "besser auf Ängste eingegangen werden". Daher solle darauf Rücksicht genommen werden, dass es zu "keinem Sozialdumping" kommt, und so etwa die Daseinsvorsorge aus der Richtlinie ausgenommen werde. Zum umstrittenen Herkunftslandprinzip habe Schüssel sich bei dem Treffen allerdings nicht geäußert, sagte die Sprecherin. Das Prinzip sieht vor, dass Arbeiter aus dem EU-Ausland innerhalb der Union unter den Bedingungen ihres Heimatlandes arbeiten können. Gewerkschaften und Linke waren dagegen Sturm gelaufen, weil sie dadurch eine Aushöhlung der Sozialstandards befürchten.

Karas: "Schluss mit der Panikmache"

"Die Dienstleistungsrichtlinie ist notwendig, wenn man für mehr Wachstum und Beschäftigung in der EU eintritt. Wie sie aussieht, darüber wird derzeit intensiv verhandelt", verteidigte EU-Parlamentarier Othmar Karas (ÖVP) am Dienstag die umstrittene Richtlinie. Schüssels Forderung nach einem neuen Entwurf sieht Karas bereits erfüllt: "1.500 Abänderungsanträge, das ist eine komplette Überarbeitung." Er rechne ohnehin mit einem "modifizierten Vorschlag der EU-Kommission" im Frühjahr, der auf die Forderungen des Parlaments eingeht. Polemik gegen die Richtlinie sei "unbegründet", weil das Parlament auf alle Fragen und Sorgen der Bevölkerung Rücksicht nehme. Daher müsse "Schluss mit der Panikmache" sein, so Karas zu Aufforderungen im Internet, die Parlamentarier mit EU-Mails zu überschütten um den Gesetzesvorschlag doch noch zu verhindern.

Karas rechnet mit der ersten Lesung im Parlament im 1. Halbjahr 2006 unter österreichischer Präsidentschaft, einer politischen Einigung zwischen den Mitgliedstaaten im zweiten Halbjahr 2006 und einer endgültigen Entscheidung frühestens 2007.

SP-Berger: Schüssel-Vorstoß "unglaubwürdig"

Die Leiterin der SP-Delegation im EU-Parlament, Maria Berger, bezeichnete Schüssels Forderung nach einem neuen Entwurf der Richtlinie "mehr als unglaubwürdig". Seit vier Jahren laufe die Debatte, jetzt warne Schüssel plötzlich vor Sozialdumping und wolle die Leistungen der Daseinsvorsorge von der Richtlinie ausgeklammert sehen, nachdem sich Wirtschaftsminister Martin Bartenstein (ÖVP) als glühender Befürworter der Dienstleistungsrichtlinie bzw. des besonders umstrittenen Herkunftslandprinzips präsentiert habe, so die Europaabgeordnete in einer Aussendung.

Einem ortet "beginnende Wahlkampfrhetorik"

Skeptisch zeigte sich am Dienstag auch SPÖ-Europasprecher Caspar Einem gegenüber Schüssels Forderung. "Wenn es die Haltung von Schüssel ist, soll es mich freuen." Allerdings habe er den "Verdacht", dass es sich um "beginnende Wahlkampfrhetorik" handle. Wenn dies die künftige Position der Regierung sei, müsse sie diese auch in den Gremien vertreten und Schüssel auch den Wirtschaftsminister auf diese Linie bringen.

Brüsseler Kommission skeptisch

Die EU-Kommission will in Sachen Dienstleistungsrichtlinie zuerst die Position des Europäischen Parlaments anhören. Ein Sprecher zeigte sich damit am Dienstag in Brüssel vor Journalisten eher skeptisch gegenüber Schüssels Vorschlag. Der Sprecher bedauerte zwar, dass das Parlament nicht, wie zunächst vorgesehen, bereits im Oktober seine Position zur umstrittenen Richtlinie vorlegen konnte. Doch die EU-Kommission hoffe, dass dies bald geschehen werde. Sie brauche nämlich "klare Hinweise" auf die Meinungen und Forderungen der Straßburger Volksvertreter in Bezug auf die Dienstleistungsrichtlinie.

Der Online-Dienst "EUObserver" zitierte den Generalsekretär des Dachverbandes europäischer Gewerkschaften (ETUC), John Monks, mit den Worten: "Der österreichische Bundeskanzler hat gesagt, wir sollten besser einen völlig neuen Text für die Dienstleistungsrichtlinie haben, und er hat viel Unterstützung von den Gewerkschaften dafür erhalten. Die Arbeitgeberorganisationen unterstützen eine solche Idee jedoch weniger."

Gegner formieren sich neu

Parallel zu den neuen Überlegungen über die umstrittene Richtlinie formieren sich auch die Gegner derselben neu. Unter www.stopbolkestein.org (benannt nach dem niederländischen Ex-EU-Kommissar und Richtlinien-Initiator Fritz Bolkestein) wird erneut gegen die Richtlinie und die - nach Ansicht der Richtlinien-Gegner - damit einhergehende "totale Öffnung des Dienstleistungsmarktes in Europa" mobil gemacht; unter anderem kann hier eine Online-Petition unterzeichnet werden. Als Unterstützer der Aktionsplattform treten aus Österreich etwa die Sozialdemokratische Fraktion in der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten sowie die Grünen und Alternativen StudentInnen auf.(APA/red)