Ingo Schulze
Neue Leben.
Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa.
Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze.
Roman.
€ 22,70/800 Seiten.
Berlin Verlag, Berlin 2005.

Cover: Berlin Verlag
 In diesem Buch darf man keinem Wort glauben. Dabei geht es um Zeithistorie, um dokumentarisch Überliefertes: um Bankrott des Sozialismus, Systemsturz und Transformation. Ingo Schulzes ausgreifender neuer Roman Neue Leben dreht sich um fundamentale Auf- und Umbrüche in der Zeit zwischen Herbst 1989 und Sommer 1990 in Ostdeutschland, damals noch ein Land namens DDR. Noch exakter: in Altenburg, einer Kreisstadt an der Grenze der Bundesländer Sachsen und Thüringen.

Dieser Mikrokosmos ist dem deutschen Autor Ingo Schulze wichtig und bereits aus seinen anderen Bänden bekannt. Auf- und Umbrüche erfassen ebenso die Vielzahl auf- und abtretender Figuren. Keiner bleibt, was er oder sie war. Und wiederum gilt: Keinem darf man trauen oder vertrauen. Erst recht nicht der Hauptfigur. Denn Ingo Schulze hat sich eine komplizierte Erzählkonstruktion ausgedacht, die im ersten Moment antiquiert, schwerfällig und verstaubt anmutet. Er hat einen Briefroman geschrieben, der sich aus Aufzeichnungen eines gewissen Enrico alias Heinrich Türmer zusammensetzt, die von einem erfolglosen Schriftsteller namens Ingo Schulze herausgegeben und kommentiert werden.

Und in dieser Korrespondenz des Möchtegernschriftstellers und Theaterdramaturgen Türmer, der Anfang 1990 zum Zeitungsredakteur und Kapitalisten mutiert, in den folgenden sieben Jahren "ein kleines Imperium" aufbaut, bis er Ende 1997 spurlos türmt und Gläubiger wie Steuerfahnder "vor offenen Türen und leeren Kassen" stehen, entfaltet sich eine Wendezeit, in der es um das Große und Politische sowie das Kleine und Persönliche geht. Beide Stränge greifen ineinander und bilden einen Staats- und einen Künstlerroman.

In Berichten an drei Briefpartner - an seine Schwester Vera, den Freund Johannes und die aus der Ferne angebetete Nicoletta Hansen - schildert Türmer detailverliebt die Endphase des real existierenden Sozialismus auf deutschem Boden, die hoffnungsfrohe, naive Aufbruchsphase wie auch sein eigenes Leben, die Selbstwandlung vom Literaten, der postpubertär-narzisstisch vom Erfolg im Westen träumt, hin zum profitorientierten Entrepreneur und Eigentümer eines Anzeigenblatts. Aber auch Schul-, Militär- und Studienzeit, erotische Verflechtungen und berufliche Anfänge im Theater zu Altenburg werden geschildert. Versehen ist Türmers einseitige "Beichte" mit selbstgerechten Anmerkungen des fiktiven "fiesen" (Ingo Schulze) Herausgebers, der als Anhang literarische Ergüsse Türmers beifügt. Diese lesen sich als schlechte Maturantenprosa à la Hermann Hesse oder als noch schlechtere Imitation der vitalistisch-maskulinen Prosa eines Hemingway oder Norman Mailer.

Schulzes Buch ist von der Kritik lange erwartet, ja geradezu sehnsüchtig herbeigesehnt worden. Der Terminus "Wenderoman" entspricht in Deutschland in etwa dem, was in den USA "The Great American Novel" genannt wird, das große, allumfassende Universalepos also, in dem sich eine ganze Generation, ein ganzes Land wiedererkennen will. Dieses Unterfangen wird publizistisch immer wieder gefordert; und so müssen Autoren wie Thomas Brussig (Deutschland-O) mit Wie es leuchtet oder vor ihm Günter Grass (Deutschland-W) mit Ein weites Feld fast zwangsläufig scheitern.

Der 1962 in Dresden geborene Ingo Schulze ist einer der begabtesten und sicherlich der erfolgreichste deutsche Autor seiner Generation. Mit den virtuosen 33 Augenblicken des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter legte er 1995 ein hinreißendes Debüt vor. Entstanden waren diese Aufzeichnungen aus Schulzes privatem Faxbriefwechsel mit einem Freund in Altenburg, ebenso das verspielte, wunderschöne Zwiegespräch in Buchform Von Nasen Faxen und Ariadnefäden.

Rang und Ruf zementierte Schulze mit seinem Zweitling, dem Roman Simple Storys (1998), der ersten deutschsprachigen literarischen Publikation seit 20 Jahren, die das nordamerikanische Intellektuellenmagazin The New Yorker eines Vorabdrucks auf ihren Seiten für würdig befand - Äquivalent des globalen literarischen Ritterschlags.

Schulze hat siebeneinhalb Jahre an Neue Leben gearbeitet. Auch diese Epopöe, geplant als Novelle, ist eine Übung im hochvirtuosen Stimmenverstellen, ist veloziferischer Ventriloquismus. Das literarische Bauchreden erhebt Schulze hier nun endgültig zum Gestaltungsprinzip. Das ist zugleich die Schwäche dieses Buches. Denn Türmer schreibt umständlich und fahrig. Man darf ihm nicht glauben. Genauso wenig dem windigen Unternehmensberater Clemens von Barrista, der Türmer unter seine mephistophelischen Fittiche nimmt. Den anderen Personen aber genauso wenig, von denen keine einzige Sympathie hervorruft. Der Herausgeber Schulze ist ein Rechthaber und ein Frustrierter. Auch allen anderen Figuren ist diese Frustration gemein. Während des Lesens baut sich eine immer stärkere Distanz auf zwischen Leser und Buch, eine Glaswand, durch die hindurch die Ereignisse immer distanzierter verfolgt werden und die nie so richtig anrühren. Schon bald werden sich Germanisten über die reichhaltigen Anspielungen, Verweise, Travestien und Zitate dieses Romans beugen und beginnen, Schulzes spinnwebgleiches Netz, das von der Klassik über Goethe und die Romantik bis zum SozLit-Realismus und zur Mythenadaption durch DDR-Autoren reicht, mit pedantischer Emphase zu entflechten.

Neue Leben ist ein Buch wie ein hochraffiniertes, manieristisches Spiegelkabinett, eine Konstellation aus konvexen und konkaven Spiegeln, die Gleiches immer wieder reflektieren und verzerren und endlos in steter Perfektion weiterspiegeln. Doch gerade diese sehr deutsche Perfektion lässt diesen Roman zur vergeudeten, fast sterilen Liebesmüh werden. (DER STANDARD, Printausgabe vom 22./23.10.2005)