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Michael Viewegh:
"Völkerball"
Aus dem Tschechischen von Eva Profusová. € 20,50/224 Seiten. Deuticke, Wien 2005.

Foto: Archiv
Es gibt Autoren, die Bestseller schreiben, die Unterhaltung liefern, und solche, die Kluges zu Papier bringen. Spätestens seit seinem neuen Roman Völkerball gehört Michael Viewegh auch zu der zweiten Sorte. Eigentlich ist es schon ein Wunder, dass der 43-jährige tschechische Autor, dessen Romane in seiner Heimat regelmäßig Hunderttausender-Auflagen erreichen, im deutschen Sprachraum so unbekannt ist. Es mag daran liegen, dass er hier bislang als "unterhaltsam, aber eben nur unterhaltsam" oder "nett, witzig, und das wär's" eingestuft wurde.

Ab jetzt gelten diese Ausreden nicht mehr. Viewegh hat mit dem Roman Völkerball ein paar Kunststücke vollbracht, die nicht vielen Autoren gelingen. Erstens hat er mühelos fünf Figuren, die obendrein aus Fleisch und Blut sind, auf subtile Art verbunden, zweitens schwebt die Symbolik des Titels - auf Tschechisch heißt Völkerball "Vybijena", was etwa so viel wie "Aus der Reihe schlagen" oder "Raus bist du" bedeutet - dezent über der Handlung. Und nicht zuletzt hat er die wichtigste Regel, die man auf Creative Wirting Seminaren künftigen Literaten eintrichtert, glänzend gelöst: die Kunst des ersten Satzes.

"Mit zwanzig kann es ganz nett sein, sich die Wohnung mit zwei Gleichaltrigen zu teilen, mit einundvierzig ist es nicht mehr so lustig", stellt Viewegh fest und erklärt auf den restlichen zweihundert Seiten, warum dem so ist. Für die Handlung suchte sich der Autor fünf Personen aus, die dieselbe Schulklasse besucht haben. Von ihrer Jugend weg begleitet er sie bis zu ihrem Vierziger. Da ist Eva, die Schöne, die an ihrer Schönheit genauso zerbricht wie ihre Klassenkameradin Hujerova an ihrer Hässlichkeit. Da ist Tom, der seine Schulliebe zu Eva derart gründlich verdrängt hat, dass er Jahre später, inzwischen Lehrer geworden, ihre achtzehnjährige Kopie heiratet. Der vierte ist Jeff, der durchtrainierte schöne Jüngling, für den alles leicht zu bekommen ist, außer er selbst. Zum Schluss wäre noch Skippy, der Klassenkasper, der lebhafteste von allen, ausgerechnet um ihn macht das Leben im eigentlichen wie im übertragenen Sinne einen Bogen.

Dass der Roman Völkerball sich derart simpel nacherzählen lässt, bedeutet, dass seine Komplexität auf einem anderen Gebiet liegt. Bemerkenswert ist der feine Strich, mit dem Viewegh die Figuren skizziert. Die Sympathie des Autors zu seinen Figuren wirkt ansteckend. Viewegh nimmt kommentarlos ihre Schwächen, und Verdrängungen zur Kenntnis, er hadert auch nicht mit der Tatsache der menschlichen Vergänglichkeit. Dass sich im Gegenzug die Figuren in Vieweghs Roman gut fühlen, merkt man daran, dass sie auf keiner einzigen Seite versuchen zu philosophieren oder sich klug zu geben. Spätestens in einer der Schlüsselszenen, der Abiturfeier, findet sich der Leser selbst wieder.

Die Schüler, die ihre Reifeprüfung gerade hinter sich haben, fühlen, dass sie auf einmal im Erwachsenenleben stehen, ohne zu wissen, was das eigentlich bedeutet. Ein Symptom dieses Erwachsenenlebens ereilt sie aber bereits: Die Bande, die sie durch acht Schuljahre zusammengehalten haben, lösen sich erschreckend schnell in nichts auf. Gegen Ende des Buches kommen sie als Vierzigjährige zu einem Klassentreffen zusammen und stellen fest, dass alles, was ihr Leben ausmachte, den Ursprung in ihrer Jugend hatte. Sie begreifen zu spät: Die Jugend war das als Hölle getarnte Paradies.

Einer der Gründe, warum Michael Viewegh dieser Roman so gut gelungen ist, liegt darin dass er eine der wichtigsten Romanregeln seines großen Landsmanns Milan Kundera befolgt hat. Kundera behauptet in seinem neuesten Essayband Der Vorhang, "dass der Romancier zugunsten der Figuren die Schreie der eigenen Seele um jeden Preis verstummen lassen muß". Michael Viewegh hat sich nicht nur daran gehalten, er hat seine Figuren und deren mehr oder weniger misslungene Leben noch dazu mit zärtlicher Aufmerksamkeit begleitet. Der Vergleich zwischen den beiden Autoren ist keineswegs zufällig. Mag Viewegh einige Tipps des großen Meisters in die Tat umgesetzt haben, so könnte sich der Meister umgekehrt die unzynische und heitere Behandlung einer Romanfigur von Viewegh abschauen.

Es gibt noch eine letzte Figur im Völkerball . Den Autor. Paradoxerweise bleibt er im Gedächtnis des Lesers am wenigsten hängen. Es ist so, als wollte Viewegh einen diskreten Hinweis auf sein eigenes Leben geben und die Frage in den Raum stellen: Muss derjenige, der das Leben anderer beobachtet, selbst automatisch auf das Leben verzichten? Besteht nicht darin die Essenz und gleichzeitig das Unglück des Autors? Sogar wenn es stimmen sollte, hat sich Michael Viewegh dieses Unglück mit dem Roman Völkerball beträchtlich versüßt. Und sollte ihm noch darüber hinaus der eigene Vierziger zu schaffen machen, müsste ihn eines auf jeden Fall trösten. Er hat noch nie so gut geschrieben. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.10.2005)