"Invasión"

Foto: Viennale
"Buenos Aires Dreams Itself": Ein "Special Program" der Viennale verfolgt quer durch argentinische und internationale Produktionen die "Spuren und Mythen einer Stadt im Kino".


Eine Panoramatotale erfasst Brachland am Stadtrand. In der Bildtiefe zeichnet sich ein Schranken ab, hinter dem Schranken ein Wagen, Männer steigen aus, es fallen Schüsse, einer der Männer geht zu Boden. Anstatt sich dem Geschehen anzunähern, wahrt die Kamera die Distanz. Sie beobachtet ohne Teilnahme und Neugier. In der Folge weiß man nicht zu sagen, wer hier sein Leben verliert, durch wessen Hand und warum.

Die Szene findet sich in den ersten Minuten von Hugo Santiagos Schwarz-Weiß-Film "Invasión". Sie zieht die Frage nach dem "Whodunit" unweigerlich nach sich. Doch diese Frage führt in die Irre, insofern sich bald zeigen soll, dass der argentinische Regisseur kein Interesse an der Auflösung hat. Gedreht wurde "Invasión" 1969, das Drehbuch stammt von den Schriftstellern Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares. Lange Zeit galt der Film als verschollen.

Auf der Viennale wird er als Teil des Tributes "Buenos Aires Dreams Itself" präsentiert. Kuratiert wurde dieses Programm von Eduardo Antin, der Direktor des Internationalen Festivals für unabhängigen Film in Buenos Aires war, bis ihm vor knapp einem Jahr aus zweifelhaften Gründen der Vertrag gekündigt wurde.

Die Stadt, in der "Invasión" spielt, heißt gar nicht Buenos Aires, sondern Aquilea. Doch sie trägt die Züge Buenos Aires', wie man die Stadt aus Erzählungen von Borges kennt: Hafenbecken, Werksmauern, Kneipen - all das hat zwar der prägnanten Schwarz-Weiß-Fotografie wegen klare Konturen, siedelt aber nah an der Grenze zum Fantastischen.

Ähnlich steht es um den Film selbst: Zwar ruft er den Plot eines Verschwörungs-und Politthrillers wach, zerlegt ihn aber so, dass nur mehr Einzelteile bleiben. Wie filmische Textbausteine montiert Santiago Szenen von klandestinen Treffen, von Flucht, Überwachung und Konspiration, ohne sie auf die herkömmliche Weise miteinander in Bezug zu setzen. Welche Gruppen in "Invasión" gegeneinander antreten, lässt sich nicht klar bestimmen, welche Ziele die Akteure verfolgen, genauso wenig.

Düstere Vorahnung

Manchmal tut sich zwischen Tonspur und Bild eine Lücke auf, legen sich das Grollen eines Raubtiers, das Kreischen von Vögeln über die Szene: Santiagos Film ist dann vielmehr eine Studie filmischer Dissoziation als ein Politthriller. Von 1976 bis 1983 herrschten in Argentinien die Militärs. Es drängt sich auf, "Invasión" als Vorahnung dieser Zeit zu begreifen.

Aber Santiagos Film ist mehr als das: Wie Godards "Alphaville" oder "Week End" entwirft er einen eher diffusen denn politisch benennbaren Ausnahmezustand, und wie die Nouvelle-Vague-Vorbilder reüssiert er, wenn er die narrativen Strukturen gleichsam ins Säurebad legt. Dabei meidet der Regisseur die Mittel der Überspitzung, auf die Godard so gerne rekurriert. Bei ihm ist Buenos Aires ein kalter Ort, eine Winterstadt, in der es Auflockerung durch den Exzess der Groteske nicht gibt.

Paranoia ist ein Schlüsselbegriff für die Filme, die Quintin für die Viennale ausgewählt hat: Paranoid ist der Held in Adolfo Aristarains Debüt "La parte del león" ("Der Löwenanteil", 1978), der durch Zufall an die Beute eines Raubüberfalls gerät und durchzudrehen beginnt, noch bevor die Gangster tatsächlich auf seine Spur kommen.

Paranoia macht sich breit in Robert Duvalls "Assassination Tango". Ein Killer aus New York (vom Regisseur selbst gespielt) wird nach Buenos Aires geschickt, um einen Job zu erledigen. Das Opfer ist gar nicht in der Stadt, und während der Killer wartet, verfließt Buenos Aires zu einem bedrohlich-schönen Kontinuum aus Tango und Verfolgung.

Staatsterror

Paranoid ist schließlich auch der Held von "Hay unos tipos abajo" (1985) von Rafael Filippelli und Emilio Alfaro. Der Film spielt im Jahr 1978, also in dem Jahr, in dem in Argentinien die Fußball-WM ausgetragen wird, ohne dass es die Weltöffentlichkeit groß kümmert, wenn Menschen verhaftet, gefoltert und zum Verschwinden gebracht werden.

Der Held, Julio (Luis Brandoni), ist ein unpolitischer Journalist, der eines Tages der Tatsache ins Auge zu sehen hat, dass vor seinem Haus Typen stehen. Steht er auf einer schwarzen Liste? Julio hat sich nichts zuschulden kommen lassen - doch Vorstellungen von Integrität und Ordnung greifen nicht in einem Land, das den Terror gegen sich selbst richtet.

Der Vorstadtzug, der Julio schließlich hinaus in die Pampa bringt, ist alles andere als ein Vehikel ins Offene. Die Schlusssequenz lässt keinen Zweifel: Je flacher das Land, umso mehr gleicht es jener labyrinthischen Falle, die Borges ans Ende seiner Detektivgeschichte Der Tod und die Kompassnadel rückte:

In Anlehnung an den Philosophen Zenon erkannte die Hauptfigur der Erzählung das perfekte Labyrinth in der geraden Linie von A nach B. Denn um die Strecke zwischen den beiden Punkten zu passieren, müsse zunächst C, der Punkt in der Mitte von A und B, passiert werden, davor D, der Punkt in der Mitte zwischen A und C, davor E, der Punkt zwischen A und D - und so weiter: Aus diesem Labyrinth führt kein Weg zurück. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.10.2005)