Margit Schreiners jüngster Roman, das "Buch der Enttäuschungen", beginnt mit der Beschreibung des Todes und endet bei der Geburt. Diesmal leiht die Autorin ihre Erzählerstimme einer 78-jährigen Frau, die zwei Jahre durch einen Schlaganfall ans Bett gefesselt ist, ehe sie loslassen kann. Es fällt ihr leicht, das letzte Mal auszuatmen. Umso katastrophaler hingegen erscheint aus der Perspektive der Toten das eigene Leben als eine Kette von falschen Träumen und Illusionen, sie hinterlässt einen "Scherbenhaufen".
Auch nach Abschluss ihrer Trilogie der Trennungen (Nackte Väter - Haus, Frauen, Sex - Heißt lieben) bleibt Margit Schreiner ihrem literarischen Kosmos treu, ihrer gnadenlosen Beschreibung des Lebens in der Zwangsjacke familiärer und gesellschaftlicher Ordnungen und Verordnungen, aus der es kein Entrinnen gibt.
Jeder Ausbruchsversuch reduziert sich am Ende auf die Erkenntnis, die Muster der Vorfahren zu wiederholen. Erzähltechnisch gekonnt wechselt sie wie immer von der verallgemeinernden Wirperspektive in die Ichperspektive. Witzig und einfühlsam gleichermaßen zeichnet sie die Spuren der Täuschungen nach, welche die Lebensentwürfe bestimmen. Die körperlichen und seelischen Zurichtungen beginnen bei der Geburt und beherrschen Kindheit und Jugend.
Meisterin der Rollenprosa
Wie schon in früheren Büchern erweist sich Margit Schreiner als Meisterin der Rollenprosa, vor allem aus der scheinbar naiven Kinderperspektive, wenn sie etwa den verzweifelten Kampf des Kleinkinds um die Flasche statt der Mutterbrust oder die räumlichen Eroberungszüge um Nachttöpfe und Bücherregale beschreibt. Der Welterforschungsdrang wird gestoppt, der Widerstandsgeist des Kindes bricht zusammen. Es ergibt sich schließlich in sein Schicksal der Unterordnung, und das Ende der Kindheit naht mit der Vernichtung der Puppe Lotte nach einer Scharlacherkrankung. Neu ist, dass Margit Schreiner im Buch der Enttäuschungen ebenso überzeugend aus der Perspektive eines alten Menschen schreibt.
Spätestens in der Pubertät beginnt der vergebliche und lebenslange Versuch, Körper und Geist an die geschlechtsspezifischen Normen anzupassen. Weil das nie gelingen kann, beginnt der schwierige Täuschungsprozess: "Wir denken zu Recht, dass wir nicht das sind, was wir scheinen und wofür sie uns halten, und deshalb müssen wir immer aufpassen, dass wir nicht erwischt werden bei den Täuschungen." Immerhin kann man im dreißigsten Jahr noch Hoffnung auf eine Zukunft haben, während die Menschen zwischen vierzig und fünfzig begreifen, dass zwar alles vorbei ist, sie aber meist nicht einmal Zeit finden, "sich scheiden zu lassen". Erst im folgenden Lebensjahrzehnt können sich die Menschen mit dem Alter abfinden und steuern auf das Alleinsein und den Tod zu. Vater, Mutter, Kind.
Das ist die Welt in Margit Schreiners Büchern, und deshalb heißt der Schlüsselsatz von Tante Henriette auch gleich zu Beginn: "Wer hätte gedacht, dass unsere Eltern uns einmal so im Stich lassen würden." Die sprachliche und inhaltliche Reduktion mag man bedauern, dennoch ermöglicht gerade sie einen geradezu entlarvenden Blick auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und ideologische Glücksversprechen.