Paris - Der Mythos "Wien um 1900" ist im französischen kollektiven Bewusstsein eine absolute Referenz für Ästhetik der Formen und Farben, Schönheit der (leicht anrüchig dargestellten) Modelle, Hochkultur, raffinierte Lebensqualität und nicht zuletzt Dekadenz und Untergang einer Epoche. Spätestens seit der Ausstellung im Centre Pompidou, Vienne 1880–1938, L'Apocalypse joyeuse, die Jean Clair 1986 kuratierte, ist diese "fröhliche Apokalypse" in Intellektuellenkreisen ein wehmütiger Begriff für einen der Höhepunkte der europäischen Kultur – und für die Österreich-Tourismusindustrie in Paris eine treibende Kraft.

Die jetzige Ausstellung Klimt, Schiele, Moser, Kokoschka. Wien 1900, die am 5. Oktober im Grand Palais eröffnet wird und bis 23. Jänner zu sehen ist, ist bereits im Vorfeld ein absoluter Kultur-Renner dieses Pariser Herbstes. Tageszeitungen, Wochen- und Monatszeitschriften gaben bereits eine Spezialnummer über diesen Kult-Kultur-Hit heraus. Man erwartet stundenlange Schlangen vor dem Ausstellungsgebäude, um die 91 Gemälde und 55 Handzeichnungen der vier Maler aus den Jahren 1890 bis 1918 zu betrachten.

Der Direktor des Musée d'Orsay, Serge Lemoine, der auch Kunstgeschichte an der Sorbonne unterrichtet, hat die Ausstellung völlig anders konzipiert, als die Pariser dies wohl erwarten. Für Lemoine ist die Kunst und Kultur Wiens um 1900 nicht identisch mit dem Mythos der Dekadenz oder dem Abstieg des Abendlandes, sondern sie leitet zur Neuzeit in der bildenden Kunst über. Als Pädagoge ersten Ranges demonstriert Lemoine durch seine lockere Hängung sowie die in jedem Saal erklärenden Kommentare (auf Französisch, Englisch und Italienisch), die auf Wesentliches der gezeigten Werke hinweisen, seinen Wiener Einstieg ins 20. Jahrhundert.

Bewusst beschränkte er sich auf nur vier Maler, bewusst wählte er eine subtile Melange aus bekannten und selten (oder gar nicht) gesehenen Werken. Leopold Museum und Belvedere haben viele Bilder geliehen, zahlreiche andere kommen aus Beständen des MoMA in New York, aus Budapest, Venedig, Den Haag sowie aus Privatsammlungen.

Die Hängung ist farblich harmonisch, obwohl Serge Lemoine einen thematischen Parcours anbietet. Das Gesamtbild ist weit weniger Abendland-Glamour mit einem Farben- und Formenkaleidoskop, sondern ein neuer Blick und Einblick in die Wiener Malerei. Sie beginnt mit einem Verführungseinstieg, nämlich den Allegorien Gustav Klimts (Liebe; Musik I; Pallas Athene, Nuda Veritas), wechselt aber rasch zu Egon Schieles Erdfarben (Tote Mutter I; Die Selbstseher II) über. Sie überrascht mit Koloman Mosers Drei kauernde Frauen und Oskar Kokoschkas Verkündigung, die alle einen ziemlich neuen Bildaufbau, den Verzicht auf Perspektive und eine unrealistische Farbpalette aufweisen.

Bei den gezeigten Landschaftsmalereien wird dieses Novum noch deutlicher. Serge Lemoine spricht von der Erfindung des "all over" (des Quasi- Verzichts auf ein Motiv) und unterstreicht dies mit einer eindrucksvollen Werkauswahl der vier Künstler. Zahlreiche Rahmenveranstaltungen, darunter insbesondere das literarische Café, das Regisseur Patrick Guinand mit Wiener Schauspielern organisiert, werden bis Ende des Jahres immer wieder auf die Wien-Präsenz hinweisen. (DER STANDARD, Printausgabe, 1./2.10.2005)