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Arno Geiger:
"Es geht uns gut"
€ 22,10/392 Seiten. Hanser, München 2005

Foto: Archiv
Für die moderne Physik ist Zeit schlicht eine Illusion. Aus dem Alltagsleben wissen wir allerdings, dass die "ephemere Tyrannin" verschiedenste Ausprägungen und Längen annehmen kann. Wer einmal die letzte Schulstunde vor den Ferien durchlitt, weiß ein Lied davon zu singen. Ein Augenblick, sagt die Wissenschaft, dauert für unser Gehirn geschlagene drei Sekunden. Wenn wir etwas Neues sehen, betrachten wir es maximal drei Sekunden, dann ist der Moment vorbei. Flugbahnen von Vögeln oder Bällen können wir nur drei Sekunden vorausahnen, und wenn wir jemandem die Hand schütteln, dauert es im Schnitt drei Sekunden. Danach wird es peinlich - oder eine Liebesaffäre.

Um Liebesgeschichten, einzelne Tage, lange und kurze Momente und darum, dass das Leben Schritt für Schritt zur Vergangenheit wird, geht es auch in Arno Geigers neuem Roman Es geht uns gut. 21 Kapitel, jedes einen einzigen Tag beschreibend, umfasst das Buch, abgedeckt wird eine Zeitspanne von etwas mehr als sechs Jahrzehnten (angefangen 1938, ein paar Monate nach dem Einmarsch der Nazis in Wien, bis in die Junitage des Jahres 2001).Vordergründig wird im Buch über drei Generationen hinweg eine österreichische Familiengeschichte, die auch die Geschichte von drei Paaren ist, erzählt. Es geht - wie in jeder solchen Geschichte - um Liebe und Tod, Verrat und Treue, Normalität und Abgrund. Doch spielerisch und gleichsam nebenbei - und das ist das Beeindruckende an diesem Buch, aber dazu später - werden auch ein Panoptikum österreichischer Befindlichkeit und die Konturen der Geschichte der Zweiten Republik sichtbar.

Philipp Erlach, 36-jährig, Schriftsteller, hat die Villa seiner Großeltern in Hietzing geerbt. Er räumt die Verlassenschaft und ist dabei ins Grübeln gekommen. Denn die Familiengeschichte, vor der er bisher davonlief, ist nun in Form des Hauses zu ihm gekommen. Eine Geschichte, die sich um seine Großeltern, die Sterks, einen ÖVP-Minister, den eine Krankheit gegen Ende des Lebens aus der Normalität kippt, und seine Bienen züchtende Frau, sowie deren Kinder Otto (1945 als 14-Jähriger bei der Schlacht um Wien ums Leben gekommen) und Ingrid, Philipps Mutter, auch sie schon tot, dreht. Und dann ist da noch Peter Erlach, Philipps Vater, der ungeliebte Schwiegersohn, der Spiele erfand, Bankrott ging und nun im Kuratorium für Verkehrssicherheit die Wahrscheinlichkeit von Verkehrsunfällen zu minimieren sucht.

Die Familie ist das eine, aber auch sonst läuft bei Philipp nicht alles blendend, sein letztes Buch war nicht sonderlich erfolgreich, und die Beziehung zu seiner Freundin Johanna, eigentlich eine Affäre, gestaltet sich schwierig. Philipp ist einer, der die Dinge gern so lässt, wie sie sind, ein scheinbar leichtlebiger Einzelgänger, der sich treiben lässt. An einer Stelle des Buches sagt er im Selbstgespräch: "Alles, was du machst, ist ein Versuch, die Kontrolle zu bewahren. Deine Passivität ist eine strategische Passivität, die dich vor der Gefahr bewahren soll, dich Dingen auszusetzen, die nicht angenehm sind. . . . Du glaubst, du kannst den Katastrophen ausweichen oder wenigstens deine Probleme vereinfachen, wenn du dich so wenig wie möglich bewegst."

Doch Kontrolle ist im Leben nicht zu haben, Dauer auch nicht, denn die Zeit kappt mit ihrem kalten Skalpell gewisse Fäden, während der Zufall andere knüpft. Diese Unabwägbarkeit erschließt Möglichkeitsräume, die davon handeln, wie es hätte kommen können, wie es aber nicht gekommen ist. Es sind einzelne, manchmal scheinbar nebensächliche Entscheidungen, welche solche Möglichkeitsräume eröffnen oder für immer verschließen. Und Entscheidungen, auch darum geht es in diesem Buch, treffen wir oft nicht in der Tat, sondern im Unterlassen von etwas. Doch auch Nichtstun kann manchmal die Dinge zum Eskalieren bringen.

Diese existenziellen Themen verknüpft Geiger, indem er einen namenlosen, allwissenden Erzähler (wahrscheinlich Philipp, dem wir beim Schreiben des Buches über die Schulter schauen) einzelne Tage aus den Leben der Figuren schildern lässt, mit der österreichischen Zeitgeschichte. Mit Todesfällen und Silvesterfeiern, mit dem Einmarsch der Besatzungsmächte, mit kämpfenden Hitlerjungen in den Straßen von Wien, mit dem Staatsvertrag, den Wirtschaftswunderjahren und den poppigen 80ern. Wie er das tut, ist sprachlich und vor allem formal beeindruckend. Das Buch ist im Präsens erzählt und (fast durchgehend) in der dritten Person gehalten, was ihm einen ganz eigenen Ton und einen großen Sog verleiht. Außerdem versteht es Geiger wie wenige deutschsprachige Autoren, Dialoge zu schreiben und Figuren, vor allem Frauenfiguren, zu charakterisieren.

Dieser Roman, es ist der vierte des 1968 im Vorarlberg geborenen Autors, ist ein ruhiges, ein schönes Buch geworden, ohne Schnörkel. Am Ende steht ein Aufbruch. Philipp reist mit zwei Arbeitern, die ihm beim Ausräumen des Hauses halfen, in die Ukraine, wo einer der beiden heiratet: "Und Philipp denkt, so sehen keine intakten Persönlichkeiten aus. Man muss nur genau hinsehen, dann sieht man, das ist keine Unabhängigkeitserklärung, das ist nicht die Rettung von drei Leben, das ist ein Fiasko, das sind drei traurige Gestalten mit der grundlosen Hoffnung, dass es Hoffnung gibt, in der schmerzhaften Erkenntnis, dass nichts geblieben ist, wie es war, und auch nichts bleiben soll, wie es ist."

Das klingt alles schwer und düster. Ist es aber nicht, denn Es geht uns gut ist kein Roman, der mit großem Schöpflöffel schwere Themen anrichtet, es ist ein melancholisch-melodisch dahinfließendes Buch, in seinem Dahinfließen geheimnisvoll wie die Zeit, aber es ist auch - wie jedes gute Buch - ein Buch der Verzauberung und Verführung zum Leben. (ALBUM, DER STANDARD, Printausgabe, 10./11.09.2005)