Der ehemalige Iswestija-Chef Raf Schakirow: "Alle haben Angst."

Foto: DER STANDARD/Steiner
In Russland empfiehlt es sich nicht, über gewisse Vorkommnisse allzu "naturalistisch" zu berichten. Ex-Iswestija-Chef Raf Schakirow kann davon ein Lied singen.

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STANDARD: Sie sind einen Tag nach dem Sturm der Schule in Beslan angeblich auf direkte Anweisung des Kreml als Chefredakteur der Iswestija entlassen worden. Hat man Sie tatsächlich wegen "zu naturalistischer Darstellung" gefeuert?
Schakirow: Die Erklärung, dass die Berichterstattung nicht dem Standard der Zeitung entsprochen habe, haben wir mit unseren Herausgebern (mittlerweile Ex-Herausgebern, Red.) von der Prof-Media ausgearbeitet. Sie sagten mir, ich kenne ja den wahren Grund. Wir hatten nicht nur das Cover mit den schrecklichsten Bildern, wir haben auch andere verschwiegene Informationen abgedruckt.

STANDARD: Warum sagten Sie nicht offen, dass der Kreml hinter Ihrer Entlassung steht?
Schakirow: Das Sonderbare ist, dass meine Kollegen in Russland mir zwar Fragen dazu gestellt haben, aber nichts darüber schrieben. Alle haben Angst. Dass der Kreml hinter meiner Entlassung steht, ist eindeutig. Gleich drei Leute riefen an. Der Kreml war in Panik geraten.

STANDARD: Gab es Anzeichen, dass es Sie treffen könnte?
Schakirow: Nein, es gab nur Empfehlungen, Unzufriedenheiten. Auch Anrufe, etwa als unsere Zeitung eine Woche vor Beslan exklusiv auf die Spur zweier Selbstmordattentäterinnen in Moskau kam. Der Geheimdienst leugnete dies und bat, keine Panik zu verbreiten. Nach zwei, drei Tagen gab es Explosionen, und man fand heraus, dass es diese beiden Frauen waren.

STANDARD: Haben die Medien in Russland überhaupt noch das Potenzial eines Korrektivs?
Schakirow: Nein, die Krankheit wird verborgen. Nicht nur die vierte Macht im Staat fehlt, auch die zweite und die dritte. In Russland gibt es keine reale Gewaltenteilung, nur eine nominelle. Als Historiker kann ich sagen, dass jedes System, das auf einem Machtmonopol gründet, nicht auf objektive Faktoren in der Gesellschaft reagieren kann. Bei Katastrophen zeigt sich daher die Ineffizienz des Systems.

STANDARD: Die Iswestija wurde kürzlich an die Kreml-nahe Gazprom-Media verkauft. Was ist hier der Hintergrund?
Schakirow: Die Prof-Media hatte viele Pläne. Man hält die Iswestija aber für eine nationale Ressource, der man keine Deals erlaubt. Die Konkurrenz schwindet nicht nur auf dem Medienmarkt, sondern auch auf dem politischen. Der Kreml nimmt sich jetzt die Zeitungen vor. Chefredakteure sind verwundbar, denn sobald etwas Außergewöhnliches passiert, müssen sie zwischen einer weichen Reaktion und einem offenen Konflikt entscheiden. Diese Zensur ist immer im Kopf.

STANDARD : Wäre ein unabhängiges TV der Staatsmacht sehr gefährlich? Schakirow : Natürlich. Die Leute hätten etwa gesehen, dass im ganzen Land wegen der Sozialreformen Losungen gegen Putin skandiert werden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29.08.2005)