Ich hatte drei Lehrer, die mit mir zurande kamen. Der liebste war mir mein Deutschprofessor, Herr Antenreiter, den wir Stoffel nannten. Er stammte aus Tirol. Er hatte hängende Schultern und einen watschelnden Gang, er war klein und korpulent, und er brachte es nicht nur fertig, während der Stunde einzuschlafen, son dern auch ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit aufzuwachen.

Stoffel war davon überzeugt, dass es nur zwei wichtige Gegenstände in der Schule gibt, Deutsch und Religion. Religion durfte er nicht mehr unterrichten, das war bekannt. Unbekannt war der Grund dafür. Ein Gerücht sprach von einem Verhältnis mit einer Schülerin, ein anderes von einem Verhältnis mit einem Schüler. Deutsch unterrichtete er jedenfalls noch, und er tat es auf seine Weise.

Stoffel, sich die groben Bauernhände reibend: "Gschwendner, nenne die möglichen Formen des Präsens!" Gschwendner: "Ich weiß sie leider nicht." Stoffel: "Dann suche nach Alternativen." Erfand Gschwendner originelle Präsensformen (Trias, Jura, Kreide oder once, doce, trece usw.), hatte er eine Chance, noch einmal davonzukommen. Blieb er stumm, notierte Stoffel kühl ein "Nicht genügend".

Die Art seines Unterrichts war, vorsichtig formuliert, unkonventionell. Zugrunde lag sie seiner Gleichgültigkeit gegenüber allem, was seinen Kollegen wichtig war. Die Disziplin der Schüler interessierte ihn nicht. Ob sie etwas lernten, interessierte ihn nicht. Ob sie aufmerksam waren, interessierte ihn nicht. Das einzige, was ihn interessierte, war Unterhaltung. Er wollte sich nicht langweilen. Und weil er sich sehr schnell langweilte und abgestumpft war, musste der Reiz stark sein.

So etwas merken Schüler schnell. Besonders gut erinnere ich mich an eine Schularbeit in der siebten Klasse. Ein schwacher Schüler, dem zum Thema nichts einfiel, zeichnete stattdessen eine Flasche mit Gesicht. Darunter schrieb er "Flaschi". Er zeichnete eine Wurst, darunter schrieb er "Wursti". Er zeichnete eine Kuh, dar unter schrieb er "Muhli", und das in möglichst kindlicher Handschrift. Sein Sitznachbar, davon angestachelt, schrieb abgezählte neunundneunzig Mal: "Die Hagerer ist eine Molke!" Eine Mitschülerin, aus der später eine nicht unbekannte Journalistin wurde, schrieb ihre Arbeit zwar brav zum Thema, jedoch von hinten nach vorne, also das letzte Wort zuerst, das vorletzte als zweites usw. (Böse Menschen behaupten, so etwas mache sie in gewisser Weise heute noch).

Keiner der drei bekam ein "Nicht genügend". Es bekam auch keiner ein "Sehr gut", so dumm war Stoffel nicht. Zum einen wusste er, wo die Grenzen dessen waren, was er akzeptieren durfte, zum anderen fühlte er sich bei solchen Streichen nur mäßig unterhalten. (Es gab für den Zeichner ein "Befriedigend", unter den anderen exzentrischen Arbeiten stand ein "Genügend").

Dem Lehrplan folgte er, wenn ihm danach war. Wenn er Lust hatte, wieder einmal Faust zu lesen, lasen wir Faust. Wenn ihn Faust in der darauf folgenden Stunde nicht mehr interessierte, wurde die Nibelungensage behandelt.

Auch das langweilte ihn, noch ehe Siegfried beim Schmied landete, und wir lasen in der nächsten Stunde Innerhofer. Es ist kein Wunder, dass er frühpensioniert wurde. Ein neuer Direktor brachte ihn kurz nach unserer Matura zur Strecke. Warum ich ihn als meinen Lieblingslehrer bezeichne, hat einen einzigen Grund: Er ließ mich in Ruhe. Ich konnte die Schule nicht leiden, weil ich das Gefühl hatte, nichts Wichtiges zu lernen, und wenn ich schon meine Zeit dort absitzen musste, sollte man mich wenigstens in Frieden lassen. Stoffel tat das.

Als ich erfuhr, er habe sich, angeblich sogar während eines Telefonats mit seiner geschiedenen Frau, die Kehle durchgeschnitten, und zwar in Stifter'scher Manier von ganz links nach ganz rechts, fühlte ich mich einige Wochen lang be drückt. Er war der erste, der mir das gab, was ich mir von den Menschen wünsche: Respekt vor meinen Eigenarten. (DER STANDARD/Album, Printausgabe, 27./28.8.2005)