Die Klassik wisse man zu unterrichten, sagte der Deutschlehrer im Gleisdorfer Gymnasium. Die großen Werke der Moderne kenne man, und nun gebe es diverse Kanonkoffer. Für seine Kolleginnen wie für ihn selbst hingegen sei es schwierig, sich in der Masse der Literatur der letzten zehn Jahre zu orientieren. Aktuelles wäre schon sehr wichtig, die meisten Schüler seien für die Lektüre ohnehin nicht leicht zu begeistern. Man würde sich gern einmal hinsetzen, um das Neueste zu besprechen. Schließlich sei das nicht nur Bildungsauftrag, sagte der Deutschlehrer, sondern auch persönliches Interesse.

Das mache er gerne, sagte der Literaturkritiker, man könne ja über allerlei Neuerscheinungen reden.

Wie man denn auswählen solle, fragte der Deutschlehrer.

Eine Sache der Schule sei ein Lektürekanon, sagte der Literatur kritiker. Ob man einen in Lehrplänen fixieren solle und welchen, darüber könne man debattieren. Ein Literaturkanon freilich sei eine implizite Auswahl. Abgesichert sei er in den Urteilen meinungsbildender Gruppen des literarischen Lebens. Ein Voraussetzungssystem statte mit ähnlichen Lesebrillen aus.

Ein Bildungsziel seit der Aufklärung sei der autonome Mensch, sagte der Deutschlehrer.

Kant, sagte der Kritiker.

Schon, sagte der Deutschlehrer.

Ein Kanon bewirke zunächst weniger eine intellektuelle Offen heit, sprach der Kritiker ins Konferenzzimmer, als ein Zugehörigkeitsgefühl. Alles andere, was nicht auf der Rangliste stehe, könne mit Fug und Unrecht als Ballast abgebucht werden. Das sei die erste Kanonfalle: Jenes selbstständige Denken, das in Bildungsprogrammen stehen, werde in einem vorgegebenen engen Rahmen nicht gefördert. Die zweite Kanonfalle sei, dass in ihren Kanonkoffern und Erläuterungen der "Hundert bedeutendsten Bücher" gerade diejenigen mit Reklameformeln aus dem Unterge schoß des geistigen Warenhauses daherkämen, die mittels künst lerischer Höhen Differenzierung versprechen würden.

Ja, sagte der Deutschlehrer, habe Mut, dich deiner eigenen Werte und Urteile zu vergewissern und über Kanongrenzen hinauszu blicken!

Man möge sich die Mechanismen des Kunstbetriebes ansehen, sagte der Kritiker. Man würde wohl auch zu hören bekommen, dass die Lesekultur in Gefahr sei und alles gleichgültig werde, wenn ohnehin alles gleich gültig sei.

Das Gute setze sich aber durch, sagte der Deutschlehrer.

Kundera, sagte der Kritiker, sei überzeugt, dass Kafka heute unbekannt wäre, wenn er auf Tschechisch geschrieben hätte. Seine Durchsetzung habe eine Weltsprache gebraucht und in dieser all die Anstrengungen eines wirkungsmächtigen Vermittlers.

Es sei nicht schwer auseinander zu halten, was besser sei, Joyce oder Rowling, sagte der Deutschlehrer.

Das sei die dritte Kanonfalle, die im Entweder-Oder zuschnappe, sagte der Kritiker. Auf wechselnde Bedingungen der Gegenwart vermöge ein Kanon meist gar nicht oder nur sehr langsam einzu gehen, er bleibe in der Verbindlichkeit. Das sei die vierte Kanonfalle, die Historisches nur vorspiele, auf Veränderung oft negativ, besonders kulturpessimistisch reagiere, wobei man Retrospektive wie Prospektive nach den gewünschten Effekten ausrichte. Sapere aude, das bedeute: Den Vormündern mache man sich nicht zum Hausvieh, man lese möglichst viel und genau, lustvoll und denkend, vorgeblich Kanonisiertes und vermeintlich Vergessenes, Beachtetes und weniger Beachtliches – und bilde sich ein Urteil. Auch das sei Bildung. Allerdings wie Kants Worte über die Aufklärung wohl auch utopisch. (DER STANDARD/Album, Printausgabe, 27./28.8.2005)