Bundeskanzler Schüssel hat der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Interview gegeben, wie es mit österreichischen Medien nie oder sehr selten zu gelingen scheint: gedankenvoll, relativ offen, kaum schönrednerisch. Er gab plötzlich Antworten. Mag sein, dass die Grundsympathien, aber auch der Anspruch der FAZ da lockernd wirkten. Bemerkenswert ist Schüssels Bekenntnis zum europäischen "Lebensmodell": "Die rechte Balance zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialem Zusammenhalt. Wir haben den richtigen Weg gefunden, die Schwachen nicht zurückzulassen und trotzdem stark zu sein im internationalen Wettbewerb." Gleichzeitig gesteht Schüssel aber ein, dass die EU verloren ist, wenn es nicht gelingt, zu mehr Wachstum und Beschäftigung zu kommen: "Von den Arbeitsplätzen, die wir in der EU haben, ist wahrscheinlich ein Drittel gefährdet" (durch die Globalisierung). Umgekehrt könne auch "mehr als ein Drittel" neu geschaffen werden. Aber der österreichische Kanzler und kommende EU- Ratspräsident hat hier erstmals offen das Ausmaß der Herausforderung angesprochen, mit dem sich die EU konfrontiert sieht. Es verträgt offenbar kein Beschweigen mehr. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.8.2005)