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Heinrich Gross

foto: ap/MARTIN GNEDT
Wien - Neue Dokumente im Fall Heinrich Gross sind aus russischen Archiven aufgetaucht: Die deutschen Journalisten Florian Beierl und Thomas Staehler sind im Zuge von Recherchen an bisher unbekannte Auszüge aus Verhörprotokollen mit dem Arzt Erwin Jekelius, einem der Hauptverantwortlichen für das NS-Euthanasieprogramms in Österreich, gekommen. Jekelius belastet dabei seinen Gehilfen, den "Spiegelgrund-Arzt" Heinrich Gross, schwer, berichteten die Journalisten bei einer Pressekonferenz am Montag. Die Unterlagen wurden heute der Wiener Staatsanwaltschaft übergeben.

Verhandlungsunfähig

Gegen den früheren NS-Arzt Heinrich Gross ist im Jahr 2000 wegen Ermordung von behinderten Kindern an der Wiener Euthanasieklinik "Am Spiegelgrund" ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden. Nach nur 30 Minuten Verhandlungsdauer wurde die Verhandlung jedoch vertagt und bis dato nicht wieder aufgenommen. Mittels Gutachten wurde in den vergangenen Jahren mehrmals die Verhandlungsunfähigkeit Gross' festgestellt. Der Beklagte wird im November 90 Jahre alt und leidet an einer Hirndemenz.

Juristisch relevant?

Nun könnte wieder Bewegung in den Fall kommen: Jekelius gesteht in den Verhören ein, dass er tausende behinderte Menschen in die Gaskammern von Hartheim geschickt sowie die Ermordung von behinderten Kindern in seiner Fachabteilung "Am Spiegelgrund" angeordnet habe. Ausgeführt hätte diesen Auftrag Heinrich Gross. Sollten die Aussagen Jekelius juristisch relevant sein, dann würde sich die Zahl mutmaßlicher Tötungsdelikte ganz erheblich erhöhen. Der ehemalige NS-Mediziner Gross wurde bisher wegen Mitwirkung an der Tötung von neun behinderten Kindern im Sommer 1944 angeklagt.

Die beiden Journalisten haben jedoch nur einen Teil der gesamten Unterlagen, weitere Sachbeweise und Briefe von Jekelius sind noch in Moskau. Peter Schwarz vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) werde "alle Hebel in Bewegung setzen", um das weitere historische Material zu erhalten.

Neue Erkenntnisse möglich

Schwarz hob nach der ersten Sichtung der vorliegenden Dokumente ihre Bedeutung hervor. Bei "aller gebotenen Vorsicht" gegenüber Verhörprotokollen aus stalinistischen Archiven, trotz einzelner fehlerhafter Zeit- und Ortsangaben - Jekelius nannte beispielsweise die oberösterreichische Euthanasiestätte Hartheim "Niederngart" - , würden inhaltliche Angaben mit bisherigen Forschungsergebnissen übereinstimmen und neue Erkenntnisse liefern. Eine endgültige Aussage bzw. eine juristische Bewertung sei zum jetzigen Zeitpunkt freilich verfrüht, sagte Schwarz bei dem Pressegespräch in der "Gedenkstätte Steinhof."

"Einmalige Bestätigung" für die Vorgänge

Man habe jedenfalls durch die erstmals vorliegenden Aussagen von Jekelius eine "einmalige Bestätigung" für die Vorgänge am Spiegelgrund, ergänzte Herwig Czech vom DÖW. "Die Causa Jekelius zeigt nur zu deutlich, dass selbst 60 Jahre nach Kriegsende die Forschungs- und Aufklärungsarbeit keinesfalls als beendet angesehen werden kann", betonte der Journalist Beierl. Man hofft nun auf eine genaue Prüfung durch die Staatsanwaltschaft Wien.

Jekelius wurde nach Kriegsende von den Sowjets verhaftet und 1948 in Moskau zu 25 Jahre Haft verurteilt. 1952 starb er in russischer Gefangenschaft an Blasenkrebs.(APA)