Nadeem Aslam:
"Atlas für verschollene Liebende"
Deutsch: Rosetta Stein. € 22,90/544 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2005

Foto: Rowohlt
Wie kommen in England lebende und vermeintlich integrierte Muslime dazu, U-Bahnen in die Luft zu sprengen? Dazu wird viel geschrieben und gemutmaßt, Schuldzuweisungen an die eine oder die andere Seite werden verteilt, es gibt Reportagen und Interviews zuhauf - und irgendwie ist der Antrieb dieser Leute trotz alledem nicht wirklich fassbar.

Jetzt meldet sich die Seite der Immigranten zu Wort, und zwar nicht mit einem schnell hingeschluderten Auftragstext, sondern mit einem wunderbaren, entsetzlichen Roman. Elf Jahre hat der 1966 in Pakistan geborene Autor an diesem Buch gearbeitet. Er ist als Jugendlicher nach England gekommen, hat dort Biochemie und Literatur studiert und lebt in London. Seine Innenansicht des abgeschotteten Immigrantengettos irgendwo in England besticht durch den Kontrast zwischen der ungemein plastischen, poetischen Sprache und der brutalen Indoktriniertheit der Protagonisten.

Gleich am Anfang wird das zentrale Thema angesprochen, um das sich die Schicksale der Romanfiguren entwickeln. Das Liebespaar Jugnu und Chanda ist verschwunden. Es ist klar, dass die Jugendlichen einem "Ehrenmord" zum Opfer gefallen sind, denn sie haben es gewagt, unverheiratet zusammenzuleben. Das bringt Schande über die Familie, und die Brüder des Mädchens sind dazu verpflichtet, die beiden umzubringen. Das passiert mit der überwiegenden Zustimmung der Gemeinde. Zunächst lernen wir Shama, den älteren Bruder von Jugnu kennen, ein Mann mit Hang zu kommunistischen Idealen, ein aufgeklärter Vermittler zwischen den Muslimen und der feindlichen Welt draußen. Er hilft seinen Mitbürgern bei Problemen mit den Behörden, er ist geachtet und gebildet. Er hat die fatalistische Gewissheit, dass die Leichen von Jugnu und Chanda irgendwann auftauchen werden. Seine Frau Kaukab, Tochter eines pakistanischen Geistlichen, lebt längst in ihrer eigenen Welt. Sie spricht nur rudimentär Englisch, ist nie über das Viertel mit ihren eigenen Leuten hinausgekommen und findet es entsetzlich, dass ihr Sohn eine Weiße geheiratet hat. Schließlich ist die Welt der Engländer durch und durch schmutzig und amoralisch, und die weißen Frauen sind sowieso alle Huren.

Das Bild, das Aslam von dieser in sich gefangenen, ungebildeten Frau zeichnet, ist besonders aufschlussreich. Er zeigt eine Variante des Stockholm-Syndroms: Geiseln solidarisieren sich mit ihrem Peiniger. Kaukab verteidigt die Normen, die sie zu einem niederrangigen Lebewesen degradieren, weil sie gar keine andere Wahl hat. Ihre Lebensenergie wird von einer Unzahl Tabus aufgezehrt. Es ist unislamisch, einen Stoff mit Schmetterlingen zu tragen, unislamisch, wenn eine Frau für sich allein kocht, als Erste vom Essen nimmt, während der Fastenzeit tagsüber ein vor Hunger brüllendes Baby stillt, eine Tasche mit dem Logo von Marks & Spencer hat oder wenn man einer Ermordeten einen Brief ihrer Schwester ins Grab legt, waszu einer der grausigsten Szenen des Romans führt.

Damit die Mädchen nur ja nicht auf dumme Gedanken kommen, werden sie via Vermittlerin nach Pakistan geschickt und dort zwangsverheiratet. Wenn das schief geht, gibt es immer noch organisierte Menschenjäger, die davongelaufene Frauen und Kinder in den englischen Frauenhäusern aufspüren und sie zur Sippe zurückschleppen, wo sie dann bestraft werden können. Ein solcher Trupp macht auch Shama ein Angebot. Seine drei Kinder, die sich zum Kummer Kaukabs den Sitten der Vorväter widersetzen und sich in der Welt der Weißen einen Platz suchen, könnten mit Kidnapping zur Räson gebracht werden. Nun, manchmal erlauben sich auch die Frauen einen nüchternen Blick auf ihre eingemauerte Welt: "Die ersten zwanzig Jahre einer Ehe gehören dem Mann, der Rest der Frau, weil sie die Kinder, die sie aufzieht, gegen ihn aufwiegeln kann, und wenn sie erwachsen sind, lassen sie ihn Dreck fressen, und sie selbst herrschen für den Rest ihrer Tage über sie alle." Kaukabs Tochter hat jedenfalls nicht vor, zwanzig Jahre ihres Lebens an einen Albtraum zu verschwenden.

Es ist die Frage, wie man in dieser Parallelwelt eine - trotzdem immer wieder zu versuchende - Integration bewerkstelligen könnte. Warum sollen sich Menschen, die an ihrem Gastland nicht interessiert sind und grundsätzlich alles, was die Weißen verkörpern, für des Teufels halten, integrieren? Wer geht schon freiwillig in diese verkommene, sündige Außen-Hölle, wo er sich sowieso nur verfolgt fühlt? Aslams Blick von innen zeigt, wie leicht es ist, wohlmeinende Phrasen zu dreschen, und wie minimal die Aussichten auf Erfolge sind. Wenn überhaupt, dann scheinen nur Bildungsangebote an die jüngere Generation eine gewisse Chance zu haben.

Aslam hält sich aus Bewertungen heraus. Er beschreibt die ungeheuerlichsten Dinge ganz ruhig, ohne Aggression. Eifernde Polemik, in welche Richtung auch immer, würde dem Text seine Stärke nehmen. Es ist spürbar, dass dieses Buch langsam gewachsen ist, in seiner orientalischen Ziselierung, in seiner Gelassenheit und absoluten Fürchterlichkeit. Weniger Gerede und Talkshows, mehr Lesen wäre angebracht. Nadeem Aslam ist ein guter Anfang. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 30./31.07.2005)