In Amerika ist der am 29. Juli 1805 in der Normandie geborene Tocqueville ein Säulenheiliger, im deutschsprachigen Raum ist einer der brillantesten Theoretiker der modernen Demokratie außerhalb des akademischen Bodens nicht existent.

Lassen wir ihn zu Wort kommen: "Müsste man dann nicht die allmähliche Entwicklung der demokratischen Institutionen und Sitten als das einzige, wenn auch nicht das beste Mittel ansehen, das uns verbleibt, um frei zu sein; und möchte man nicht bereitwillig die demokratische Regierung, ohne sie zu lieben, als das brauchbarste und ehrenhafteste Heilmittel ergreifen, mit dem man den heutigen Übeln der Gesellschaft begegnen könnte?"

Wie aktuell und doch so entfernt: der Bezug zwischen Demokratie und Freiheit. Unter den Ländern Europas geht es in erster Linie um Transferzahlungen von und nach Brüssel. Ins französische und niederländische Nein kann alles Mögliche hineininterpretiert werden. Die künftige Ausrichtung der Union oder gar ein gesamteuropäisches demokratisches Ordnungssystem hat man jedenfalls im Entwurf nicht vorgelegt.

Lassen wir Tocqueville fortsetzen: "Das Volk an der Regierung zu beteiligen ist schwierig, noch schwerer ist es, ihm die Erfahrung zu vermitteln und die Gefühle einzuflößen, die ihm zum guten Regieren fehlen. (...) Stimmt es aber, dass es bald keinen Mittelweg gibt zwischen der Herrschaft der Demokratie und dem Joch eines Einzigen, sollten wir dann nicht lieber jener zuneigen, als uns freiwillig diesem zu unterwerfen? Und falls man schließlich eine völlige Gleichheit erreichen sollte, wäre es nicht besser, sich durch die Freiheit als durch einen Despoten nivellieren zu lassen?"

Wie viele Menschen, besonders in islamisch geprägten Ländern, nehmen auch heute noch lieber das Joch von Despoten in Kauf, als sich auf Demokratie einzulassen? Warum verlaufen demokratische Entwicklungen (wenn es sie überhaupt gibt) in diesen Ländern so zögerlich? Damit kommt man direkt zu den Attentaten von Madrid und London. Wie gelingt es muslimischen Gemeinden in der Diaspora, sich in das demokratische System des Westens einzuklinken? Wie könnte "Erziehung zur Demokratie" als Instrument zur Integration gelingen?

Tocqueville ist bei all seiner Begeisterung für das demokratische Modell nicht blind. Er räsoniert: "Mein Ziel bestand darin, am Beispiel Amerika zu zeigen, dass die Gesetze und vor allem die Sitten einem demokratischen Volk erlauben können, frei zu bleiben. Im Übrigen bin ich weit davon entfernt zu glauben, dass wir das von der amerikanischen Demokratie gegebene Beispiel befolgen und die Mittel nachahmen sollten, deren sie sich zum Erreichen ihres Zieles bediente; denn ich verkenne nicht den Einfluss, den die Natur des Landes und die früheren Verhältnisse auf die politische Verfassung ausüben, und ich würde es als ein großes Unglück für das Menschengeschlecht erachten, wenn die Freiheit überall in der gleichen Weise verwirklicht werden müsste."

Bush, Rumsfeld und Blair waren offensichtlich nicht dieser Meinung, wie das Irak-Debakel zeigt. Wie kann Freiheit wachsen, damit demokratische Strukturen sich herausbilden können? Europa ist angesichts der Ratlosigkeit über den vorgelegten Verfassungsentwurf ebenfalls gefordert. Wie können "Gesetze und gute Sitten" den Europäern jenes Mehr an Freiheit bringen, welches schöpferische Leistung zulässt? Jede Bürgerin und jeder Bürger sind gefordert. Denn ohne die Partizipation des Einzelnen ist Demokratie nicht möglich. (DER STANDARD, Print, 29.7.2005)