Sie haben auch über die grausame Diskrepanz im Bewusstsein des modernen Konsumenten geschrieben: Einerseits essen wir Kalbsschnitzel und Fischstäbchen, ohne einen Moment an die Kreatur zu denken, die dafür ihr Leben geben musste - anderseits verabscheuen wir die Idee, Katze oder Hund zu verspeisen, als inhuman. Ist da etwas mit unserem Sinn für Realität und für das, was wir essen, falsch gelaufen?
Hamilton-Paterson: Eine Antwort ist, was ich eben erwähnt habe: dass Kulturen extrem konservativ über ihr bevorzugtes Essen denken und es als moralisch richtig verteidigen, selbst wenn es anderen völlig abartig vorkommen mag. Außerdem haben immer weniger Leute eine Ahnung vom Leben auf dem Lande, von den Tieren, die da leben und sterben. Ich habe gebildete Freunde in London, die wissen nicht, wie eine Kartoffelstaude aussieht. Das ist unfassbar. Ebenso gibt es wohl immer mehr Menschen, die noch nie ein lebendiges Huhn gesehen haben. Die gefrorenen Fischziegel im Supermarkt, Hamburger-Laibchen, Chicken-Nuggets usw. geben einem keinerlei Anhaltspunkt, dass dafür eine Kreatur ihr kurzes und oft grauenvolles Leben geben musste. Dabei werden wir noch unterstützt, uns nur ja keine Fragen über die Moral so eines Handelns zu stellen.
Wie das?
Hamilton-Paterson: Unsere Vorliebe für Fischstäbchen, Hamburger, Schnitzel etc. wird von Wirtschaft und Werbung aktiv unterstützt, abgesegnet und gefördert. Praktisch gibt es doch eine Verschwörung, die vorgibt, dass der Fisch, den wir essen, seinen Lebenszyklus im Tiefkühler begonnen hat. Wir haben viel zu viel Distanz aufgebaut zwischen uns und den Tieren, die wir verspeisen. Die Leute müssten gezwungen werden, ihren Bedarf an Fleisch selbst zu decken, ihre Tiere selbst zu schlachten. Wenn der Mensch sein Essen selbst töten muss, ändert das für die Tiere wenig, für den Menschen aber viel: Es schafft Bewusstsein, Respekt, es regt zum Nachdenken an.
Sie leben in der Toskana, einem Ferienziel kultivierter Briten, Deutscher, Österreicher. Wie geht es einem, wenn die Heimat alle Jahre wieder von Touristen überrannt wird, die auf der Jagd nach dem definitiven Olivenöl und ähnlichen Trophäen sind?
Hamilton-Paterson: Sie haben Recht. Ich lebe seit 24 Jahren hier, und langsam muss ich ans Abhauen denken. Es hat wohl mit den vielen toskanischen Landschaften auf Renaissancegemälden zu tun, dass der Bildungsbürger sein Glück bevorzugt in dieser Gegend sucht. Das Buch sollte ursprünglich keine Satire auf Foodies werden, aber mein wachsender Ekel vor der satten Selbstzufriedenheit und dem Snobismus, die damit zusammenhängen, ist dann, leider, durchgesickert. Trophäenjagd wie die von Ihnen erwähnte wecken nun einmal meine satirische Ader.
Die meisten im Buch enthaltenen Rezepte klingen ziemlich ungenießbar. Macht Ihnen Kochen Spaß?
Hamilton-Paterson: Hie und da ein Rezept zu erfinden, das macht Spaß. Aber ich bin kein Koch, und Single noch dazu. Da kommt man nur selten zum Kochen.
Der englische Drei-Sterne-Koch Heston Blumenthal wurde gerade zum besten Koch der Welt gewählt. Er macht Sorbet aus Sardinen. In Ihrem Buch wird Eiscreme mit 15 Zehen Knoblauch und ordentlich Fernet-Branca gerührt. Muss man Engländer sein, um auf solche Ideen zu kommen?
Hamilton-Paterson: Von Blumenthal habe ich vergangenen Monat zum ersten Mal gehört. Wahrscheinlich muss man nicht zwingend Engländer sein, um diese Art barocker (und oft auch ungenießbarer) Kreationen zu goutieren. Jetzt ist gerade "Fusion Cooking" populär, da scheint es nur logisch derart herumzuexperimentieren. Im Vergleich dazu wirkt die klassische, französische Küche irgendwie fossil. Sie steckt auch in einer Krise. Detto die französische Weinwirtschaft und - wie manche argumentieren - die Kultur als Ganzes. Je mehr die Académie Fran¸caise sich müht, eine unrealistische Vorstellung sprachlicher "Reinheit" hochzuhalten, desto mehr scheint der Rest von uns damit beschäftigt, in fröhlichem Internationalismus mit neuen und oft ziemlich bizarren Mixturen zu spielen.
In Italien wird gutes Essen seit jeher als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. England ist (wie auch Österreich) zu einer Nation von Foodies geworden, die endlos über Restaurants, Rezepte und kulinarische Abenteuer debattieren können. Was fasziniert Sie am Essen?
Hamilton-Paterson: Wie gesagt, Essen als solches fasziniert mich nicht besonders. Spannend ist das Verhalten des Menschen, besonders die Verwandlungen im Reigen der Moden. Es stimmt: Italiener setzen gutes Essen einfach voraus, aber sie machen keinen Fetisch daraus. Dank "Slow Food" ist ein Bewusstsein für Qualität und Tradition entstanden. Aber anders als in England und vielleicht Österreich, wo Essen erst verhältnismäßig kurz mit Genuss und Geschmack verbunden wird. Nach dem Krieg war es in erster Linie ein notwendiger Brennstoff, manchmal zufällig auch ein Quell der Freude. Heute sind wir reich und leisten uns "Trophy Eating" und geschmäcklerisches Auskennertum. Ich habe den Verdacht, dass die "Foodies" den größten Spaß daran haben, sich in angesagten Restaurants und unfassbar teuren Feinkostläden sehen zu lassen. Und nur ganz selten kommt bei Menschen meiner Generation plötzlich Ärger und Abscheu hoch, vor der Oberflächlichkeit, der Verschwendung und dem endlosen Befriedigungszwang. Und manche schreiben dann alberne Romane, in die sie ein wenig von ihrer Skepsis hineinpacken.
(Der Standard/rondo/29/07/2005)