Weibliches Familienoberhaupt auf amourösen Abwegen: Valéria Bruni-Tedeschi und ihr unberechenbarer Filmliebhaber Jacques Bonnaffé in "Meeresfrüchte".

Foto: Filmladen
Im Zentrum der Turbulenzen: Valéria Bruni-Tedeschi.


Wien – Was ist eigentlich ein Sommerfilm? Während aus den USA zum Ferienstart regelmäßig millionenschwere Blockbuster anrollen, die man nur selten mit Leichtigkeit assoziiert, setzt man in Europa zur (eigentlich) heißen Jahreszeit eher auf Unterhaltung. Im besten Fall sieht man auf der Leinwand dann Menschen zu, die das tun, was man auch selber gerne täte: Sie machen Urlaub, haben Arbeit und andere äußere Irritationen zu Hause gelassen und können sich ganz auf elementare menschliche Bedürfnisse kon zentrieren.

Der französische Film Meeresfrüchte (Crustacés et coquillages) hat sich diese Vorgaben zu Herzen genommen. Es geht in dieser boulevardesken Komödie um Missverständnisse und kleine Scharaden, um die Verwirrung der Gefühle und vor allem um kaum zu bändigende sexuelle Energien.

Béatrix (Valéria Bruni-Tedeschi) und Marc (Gilbert Melki) sind mit zwei Teenager-Kindern ins Familienferienhäuschen am Meer gereist. Die Tochter folgt bald einem jungen Mann nach Portugal. Die Eltern spekulieren derweil über die sexuelle Orientierung ihres Sohnes. Dessen bester Freund macht inzwischen tatsächlich nächtens auf schmalen Küstenpfaden Männerbekanntschaften.

Im Zuge dieser Begegnungen rührt er seinerseits ungewollt an ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Und Béatrix empfängt bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihren heimlichen Liebhaber, der ihr an die Küste nachgereist ist.

Leichte Kost

Meeresfrüchte ist der vierte Spielfilm von Olivier Ducastel und Jacques Martineau. Die französischen Filmemacher pflegen seit jeher eine Vorliebe für auf den ersten Blick leichte Erzählungen, die je doch ganz selbstverständlich auch gesellschaftliche Themen von einiger Brisanz aufnehmen. Unter anderem berufen sie sich dabei aufs Musical. Und zwar auf jene Linie, die einst Jacques Demy eröffnete, indem er Gesang und Tanz mit ebenso alltäglichen wie aktuellen Geschichten zusammen schloss und dabei erst eine ganz eigene Eindringlichkeit erzielte.

Seinen beiden Nachfahren fehlt dazu noch ein wenig die ästhetische Konsequenz. Ihre Filme haben – nicht zuletzt in Bezug auf Choreografie, Gesang oder Ausstattung – immer etwas Handgemachtes, was einerseits charmant wirkt, andererseits dann aber doch auch unangenehm auffällt und das Vergnügen mindert. Ducastel und Martineau debütierten 1997 mit dem Musical <$i>Jeanne et le garçon formidable, in dem Demys Sohn Mathieu eine Hauptrolle spielte und die Protagonisten mit einem positiven HIV-Befund umgehen mussten; in dem fiktiven Tagebuchfilm Ma vraie vie à Rouen (2002), ihrer bisher überzeugendsten Arbeit, stand das Coming-out eines Teenagers im Zentrum.

Auch in Meeresfrüchte wird nun das herkömmliche Spektrum der sommerlichen Liebes- und Verwechslungskomödie um einige Gesangs- und Tanzeinlagen ergänzt und thematisch in Richtung sexueller Identitätsfindung erweitert.

Darüber hinaus bietet der Film einigen Charakterdarstellern die Gelegenheit zum Rollentausch: allen voran die italofranzösische Schauspielerin Valéria Bruni-Tedeschi, die als lebenslustige Béatrix wieder ihr komisches Talent ausleben darf, oder Jacques Bonnaffé, der als enthemmter Fortysomething eine beherzt peinliche Figur abgibt.

Am Ende von Meeresfrüchte haben einige Figuren nachdrücklich die Positionen im Beziehungsgefüge gewechselt – und wir lernen: einem schönen Sommer am Meer tut das keinen Abbruch.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.7.2005)