"Sehr geehrte Damen und Herren! Was sagt Ihnen die Zahl 170 Millionen? Diese Zahl ist in letzter Zeit in zwei verschiedenen Zusammenhängen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben und doch irgendwie verwandt sind, immer wieder in den Medien aufgetaucht und hat in dem einen Fall Anlass zu Stolz, im anderen Fall Anlass zu Verzweiflung gegeben.
170 Millionen – es ist zufällig ein und dieselbe Zahl, die heute den Glanz des kulturellen und geistigen Lebens in Österreich und zugleich dessen Elend ausdrückt, den wirtschaftlichen Erfolg des prestigeträchtigen kulturellen Lebens, wie auch die wirtschaftliche Misere des geistigen Lebens. Es ist ein und dieselbe Zahl, die als Bilanzzahl politischen Gelingens vermarktet wird und zugleich zur Chiffre für politisches Versagen wurde: 170 Millionen, das ist die Euro-Summe, die laut Wirtschaftskammer als Umsatz aus der Umwegrentabilität der Salzburger Festspiele erwartet wird, und zugleich ist es just die Summe, die den österreichischen Universitäten fehlt, nur um den gegenwärtigen Betrieb, also die aktuelle Misere ohne noch die geringste Verbesserung und Modernisierung, aufrechtzuerhalten.
"Gesellschaftliche Elite feiert auf den Trümmern der Universitätsstadt"
Mit anderen Worten: In den wenigen Wochen des Salzburger Kulturspektakels werden die Festspielgäste just jene Summe schlicht und einfach verkonsumieren, die den österreichischen Universitäten in diesem Jahr in ihrem Mindestbudget fehlen. Im Sommer 2005, das war also letztlich den österreichischen Medien zu entnehmen, feiert sich in der Festspielstadt Salzburg eine gesellschaftliche Elite auf den Trümmern auch der Universitätsstadt Salzburg. Man könnte auch sagen: es feiert sich eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite vor der geistigen Sintflut.
Nun muss der zahlenmagische Zufall, dass in einem gesellschaftlichen Bereich in kurzer Zeit just die Summe lukriert wird, die in einem anderen Bereich für das ganze Jahr fehlt, keinen ursächlichen Zusammenhang haben. Allerdings gibt es gesellschaftlich noch andere Zusammenhänge als bloß die ursächlichen und unmittelbaren. Tatsächlich ist ja das Gerede von der allzu großen Komplexität der Verhältnisse und der neuen Unübersichtlichkeit der Phänomene, die es nicht mehr erlaubten, von gesellschaftlicher Totalität zu sprechen, die man in ihren vermittelten Zusammenhängen erkennen könne, immer schon ideologischer Unsinn gewesen.
Bereits Mitte des vorigen Jahrhunderts hat Heimito von Doderer, wahrlich des Linksintellektualismus unverdächtig, schlagend "gegen den dürftigen Erklärungsverzicht gegenüber der so genannten neuen Komplexität" argumentiert: "Man muss nur an einem weghängenden Faden anziehen", (zum Beispiel der Kultur), schrieb er, "und schon löst sich das ganze fatologische Gewebe unseres Lebens auf! Gerade darin, wie leicht wir es auftrennen können, zeigt sich schließlich, wie es zusammenhängt."
"Alle gesellschaftlichen Lebensentäußerungen stellen ein Gewebe dar"
Es ist also nicht so, dass es keine Zusammenhänge gibt, es ist auch nicht so, dass alles auf unerklärbare und daher unbeherrschbare Weise zusammenhängt, sondern vielmehr so, dass alle gesellschaftlichen Lebensentäußerungen ein Gewebe darstellen, einen einzigen Text im Sinne des Wortes, und es sagt daher etwas über je aktuelle gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Interessen aus, wenn wir die beiden Zahlen, die zufällig dieselbe Zahl sind, zusammen betrachten, so wie wir das Muster eines Stoffes zugleich mit der Webart des Stoffs beurteilen können und, wenn er zu einem Rock verarbeitet ist, mit seinem Schnitt – und dagegen argumentieren werden nur die, die mit gutem Grund befürchten, dass, wenn wir eben nicht alleine das elegante Muster betrachten, allzu deutlich wird, wie fadenscheinig der Rock ist.
Keine Angst, es soll hier nicht moralisiert werden, etwa dergestalt, wie verwerflich es sei, dass bei Opernaufführungen von Mozart, der verarmt in einem Massengrab verscharrt worden war, heute schamlos Reichtum ausgestellt und Profite lukriert werden, während die Zukunfts- und Erwerbschancen der nächsten Generation zerstört werden. Ich will auch nicht polemisieren, etwa gegen Interessen, die nicht die meinen sind. Alle Interessen sind legitim – ich will bloß dies tun: neugierig an diesem zufällig weghängenden Faden, nämlich der erwähnten Zahl, anziehen und sehen, wie die Maschen der Reihe nach fallen.
"Betörender wirtschaftlicher Erfolg dieses kulturellen Spektakels"
170 Millionen Euro werden also Salzburger Geschäftsleute durch die Salzburger Festspiele lukrieren – das ist ein betörender wirtschaftlicher Erfolg dieses kulturellen Spektakels. Ich gehe davon aus, dass diejenigen, die von den Festspielen wirtschaftlich profitieren, Kinder und vielleicht sogar Enkelkinder haben. Und ich gehe weiters davon aus, dass sie für ihre Umsätze und Gewinne Steuern bezahlen. Den Zeitungen entnehme ich, dass diese Steuerleistungen die staatlichen Subventionen für die Festspiele weit übertreffen. Hier haben sich also staatliche Subventionen als glänzende Investition erwiesen.
Nun frage ich mich aber, wieso die Salzburger vom Staat nicht nur erwarten, dass er ihnen durch entsprechend subventionierte Rahmenbedingungen Profite ermöglicht, sondern auch, dass nach ihren erbrachten Steuerleistungen ihren Kindern und Enkelkindern Bildung ermöglicht wird, durch gut ausgestattete, funktionierende Universitäten, zur nachhaltigen Absicherung der wirtschaftlichen Erfolge dieses Landes. Ich gehe nicht davon aus, dass sie im Ernst glauben, dass die Verdummung der nächsten Generation die Profite der nächsten Generation vergrößern wird.
"Zusammenhang zwischen Erfolg und Misere"
Bereits an diesem Punkt sehen Sie, dass es einen mittelbaren Zusammenhang gibt zwischen dem Erfolg der Salzburger Festspiele und der Misere der Universitäten – und dass dieser Zusammenhang sich augenblicklich als Verblendungszusammenhang erweist: Menschen, die beste Erfahrungen mit staatlichen Subventionen gemacht haben, sind überall dort, wo sie keinen kurzfristigen, unmittelbaren Profit in die eigenen Taschen erwarten können, gegen ihre Erfahrungen augenblicklich der Meinung, dass der Staat rigid "sparen" müsse – selbst wenn dadurch die Bildungschancen der eigenen Kinder zerstört werden. Oder täusche ich mich? Hat jemand Proteste von der Salzburger Wirtschaft gegen den Zustand zumindest der Salzburger Universität gehört? Ja, die Salzburger Geschäftsleute haben nicht einmal verständnislos den Kopf geschüttelt, als der Staat den Bundesanteil der Subventionen für die Wiener Festwochen eingespart hat.
Viele glauben ehrlich, "dass ihre Profite ausschließlich ihrer eigenen
Tüchtigkeit zu verdanken sind" Es
mag ja sein, dass diejenigen,
die heute im Bereich der Kultur, aber auch in anderen Bereichen, von der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik ökonomisch profitieren, ehrlich
glauben, dass ihre Profite ausschließlich ihrer eigenen
Tüchtigkeit zu verdanken
sind, und nicht der simplen
Tatsache, dass sie zufällig zu
den Gewinnern einer Wirtschaftspolitik zählen, die in
größerem Zusammenhang allerdings immer mehr Verlierer
produziert, und es mag auch
sein, dass sie daher auch blind
darin vertrauen, dass just ihre
Kinder dereinst ebenfalls
ihres eigenen Glückes Schmied
sein werden, erst recht wenn
sie ihnen vielleicht einen vergoldeten Amboss vererben
können – aber es zeigt doch
von einiger Verblendung in
ihrem ureigensten Erfahrungsbereich, dass just diese
Menschen, die wirtschaftlich
von Kunst unmittelbar profitieren, sich immer wieder als
kunst- und geistfeindlich erweisen – ich erinnere nur an
die Auseinandersetzungen
mit Thomas Bernhard zu seinen Lebzeiten, an die Aufregungen um manche Inszenierungen in der Ära Mortier oder
an die bürgerliche Stadtguerilla im Kampf gegen die Plastik
von Gelatin –, als wäre lebende, zeitgenössische Kunst so
wie auch die Neuinterpretation des Kunstkanons bloße
Geschäftsstörung der Salzburger Wirtschaft und nicht auch
Produktion ihrer künftigen
Geschäftsgrundlage. Und
verallgemeinert zeigt sich hier
das so eigentümliche wie Besorgnis erregende Phänomen,
dass diejenigen, die von der
gegenwärtigen politischen Situation wirtschaftlich profitieren, in ihrer Verblendung offenbar nicht mehr imstande
oder bereit sind, über ihren
betriebswirtschaftlichen Tellerrand zu schauen und die
gegenwärtig eklatanten volkswirtschaftlichen Widersprüche, die letztlich auch sie
selbst und ihre Kinder bedrohen werden, wenigstens zur
Kenntnis zu nehmen: zum
Beispiel die Frage, wie es rechnerisch überhaupt möglich
ist, dass der gesellschaftliche
Reichtum unausgesetzt
wächst, während in allen gesellschaftlichen Bereichen
immer mehr gespart werden
muss. Das war doch in den
letzten Wochen immer wieder
Gegenstand der Berichterstattung, nicht nur in den österreichischen Medien, sondern
Schlagzeilenmeldung und Titelgeschichte auch von
Schweizer und Deutschen
Zeitungen und Zeitschriften:
wie blendend die österreichischen Wirtschaftsdaten sind,
die Anlass zu Neid bei den
Deutschen geben und sogar
Bewunderung bei den wahrlich wohlhabenden Schweizern auslösen. Bildung, Gesundheit, Altersvorsorge, "auf dem
heute so betörenden Stand des Reichtums nicht mehr finanzierbar" Noch nie in der
Geschichte dieses Landes
wurde ein so großer gesellschaftlicher Reichtum produziert. Einerseits. Auf den anderen Seiten der Zeitungen lesen wir aber, dass die gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte, die
statistisch gesehen ärmere
Jahrzehnte waren, auf dem
heute so betörenden Stand des
Reichtums nicht mehr finanzierbar seien, nicht unsere Bildungsinstitutionen, nicht
unser Gesundheitssystem,
nicht unsere Altersvorsorge.
Wo also ist der gesellschaftliche Reichtum, der in Bilanzen, Statistiken und allgemeinen Wirtschaftsdaten aufscheint, aber in unserer empirisch erfahrbaren gesellschaftlichen Realität angeblich
fehlt? Wo verschwindet er
hin? Wenn eine Gesellschaft statistisch reicher wird, empirisch aber verarmt, handelt es
sich offenbar um ein Verteilungsproblem. Das heißt, wir
sehen alleine schon an diesem kleinen Beispiel, dem schönen wirtschaftlichen Erfolg eines kulturellen Events bei
gleichzeitiger Misere der Bildungsinstitutionen (und wir
könnten jetzt alle gesellschaftlichen Bereiche abschreiten
und dies immer wieder aufs
Neue empirisch belegen), dass ein
gesellschaftlicher Konsens
aufgekündigt worden ist, der
in den westlichen europäischen Demokratien nach den
Erfahrungen aus der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts getroffen worden war, der Konsens nämlich, für wachsende
Gerechtigkeit bei der Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums zu sorgen, um jene Krisen und
Kämpfe zu vermeiden, die
schließlich zu zwei Weltkriegen und zu dem berühmten
Schwur "Nie wieder!" geführt
hatten. Auf dieser Basis, in Anerkennung dieser Erfahrungen
haben wir alle bis vor kurzem
in unserer Lebenszeit gewirtschaftet, wachsenden wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Reichtum produziert,
sozialen Frieden und Rechtsstaat aufgebaut, auf dieser
Grundlage haben wir unsere
Werte und Lebensvorstellungen definiert, in Sicherheit
ausgebaut und unser Leben zu
machen versucht. Nicht dass
dieses System keine Defizite
hatte – aber diese Defizite waren keine in der Wirtschaftsbilanz (bekanntlich gab es seit
1945 kein Jahr ohne Wirtschaftswachstum), sondern
Defizite in den institutionalisierten Formen des Interessensausgleichs, und nur diese
Defizite waren bislang Gegenstand aller politischen, künstlerischen und intellektuellen
Kritik und Selbstkritik. Was
bedeutet es nun, wenn dieser
Konsens, der letztlich nichts
anderes war als die politisch
hergestellte je bestmögliche
Balance aus Eigennutz und
Gemeinwohl, aufgekündigt
wird? Sicherlich nicht, dass
dieser Zusammenhang zwischen partikularen Interessen
und dem Ganzen nicht mehr
existiert, sondern zunächst
einmal nur, dass er wieder
einmal dorthin verschwindet,
wo er immer schon und immer
wieder hinwollte, nämlich in
dem ideologischem Nebel, wo
nur noch partikulare Interessen, und hier wieder die
machtvollsten, und nicht der
Interessensausgleich die gesellschaftliche Dynamik produzieren. Dass sozusagen meine Interessen wichtiger sind
als Deine Interessen, und dass
ich, wenn ich gerade stärker
bin, meine Interessen kompromisslos durchzusetzen versuche, ist zweifellos sehr
menschlich, aber es ist vieles
menschlich, was im menschlichen Zusammenleben bekanntlich gezähmt werden
muss. Was den Menschen "nicht interessiert, existiert für
ihn nicht notwendigerweise" Sehr viele Wissenschaftsdisziplinen konnten,
nicht zuletzt weil unsere Universitäten in den vergangenen
Jahrzehnten hervorragende
Arbeit geleistet haben, schlüssige Erklärungen dafür liefern,
warum jeder einzelne angesichts der Realität immer nur
einen kleinen Teil in den Blick
nehmen kann, ihn mit Interessen auflädt und alle anders gearteten Interessen nicht als
ebenso begründet ansieht,
schon gar nicht als mit den eigenen vernetzt erkennt, sondern als verworren und ideologisch fehlgeleitet betrachtet
– ja oftmals gar nicht anders
kann. Jeder Mensch ist eben
interessengeleitet, und was
ihn (ihn jedem Wortsinn)
nicht interessiert, existiert für
ihn nicht notwendigerweise,
auch wenn es eben auf sehr
vermittelte Weise seine ureigenen Probleme, aber auch die
Möglichkeiten sie zu lösen,
mitproduziert. Irgendwo da,
in diesem dunklen Feld des
Desinteresses an seinen vermittelten Interessen, liegt der
Grund dafür, warum Menschen immer wieder gegen
ihre objektiven Interessen
handeln und Entscheidungen
treffen. Betrachten wir unter
diesem Gesichtspunkt jetzt
noch einmal unsere glücklichen Wirtschaftstreibenden,
die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen
Eliten, die hier bei Kunst und
Kultur nicht nur ihre Profite
feiern, sondern Festspiele
auch zum Anlass von Selbstdarstellung und nicht zur
Selbstreflexion nehmen wollen. Und schon müssen wir
wieder einen großen österreichischen Dichter paraphrasieren, nämlich Karl Kraus, der
darauf hingewiesen hat, dass
es Menschen gibt, die aus
Schaden dumm werden. Unser Bürgertum. Es hat Interessen. Es ist sich seiner Interessen bewusst. Es hat eine Reihe
machtvoller Möglichkeiten,
seine Interessen durchzusetzen. "Keine soziologische Gruppe ist wider alle Erfahrungen so kurzsichtig
wie die Unternehmer" Sehe ich Sie nicken? Dem
werden Sie doch zustimmen!
Und wenn Sie dem zustimmen, dann werden Sie auch
der Begründung dafür zustimmen müssen, wenn ich sage, dass sich in den letzten rund
hundertfünfzig Jahren wenig
so deutlich gezeigt hat, wie
dies: Es gibt keine soziologische Gruppe, die wider alle Erfahrungen so kurzsichtig ist
wie die Unternehmer, die Bürger und alle, die sich dafür halten, und ihre Trabanten wie
Aufsichtsräte, Konzernmanager, Industriellenvereinigungsfunktionäre und nicht
zuletzt die Medienmacher auf
deren unmittelbaren oder indirekten pay-roll. Denn: lässt
man den Interessen dieser
Menschen freie Bahn, können
wir in kürzester Zeit die Zerstörung aller Errungenschaften mitansehen, die das bürgerliche Zeitalter mit sich gebracht hat. Demokratie, Sozialstaat, Chancengleichheit
und nicht zuletzt freie Märkte,
die nicht nur abstrakt ideologisch frei sind, sondern tatsächlich über so starke Kaufkraft verfügen, die es den
Menschen möglich ist, frei ihr
Leben zu gestalten. "Unternehmer glauben offenbar an
Marsmännchen" Das unmittelbare Interesse der
Unternehmer und daher das
einzige, das sie zunächst kennen, ist: möglichst billige Produktionskosten mit am Ende
möglichst hoher Wertschöpfung. Sie nicken! Nun wissen
wir aber aus leidvollster historischer Erfahrung, dass der
erste Teil des Unternehmerinteresses, radikal umgesetzt,
mit einiger Logik schrumpfende Einkommen, wachsende
Arbeitslosigkeit, soziales
Elend und staatliche Steuerausfälle produziert, mit der
Konsequenz, dass der zweite
Teil des Unternehmerinteresses immer schwerer eingelöst
werden kann, weil immer weniger Menschen die nötige
Kaufkraft aufbringen können.
Mit anderen Worten: Unternehmer glauben offenbar an
Marsmännchen. Denn wer
sonst soll kommen und ihnen
abkaufen, was sie zur Erhöhung ihrer Rendite auf der Basis von Lohndumping und
Steuerdumping produzieren? Lässt man also den Unternehmerinteressen freien Lauf
(und wir erleben heute, wie
dies nach Aufkündigung des
Nachkriegskonsens in Europa
bereits passiert), haben wir in
kurzer Zeit Verhältnisse wie
in der Zwischenkriegszeit,
und wenig später wie zu Zeiten des Manchester-Kapitalismus. Das finden Sie übertrieben? Dann bedenken Sie folgende unbezweifelbare historische Erfahrung: Allen Fortschritt im bürgerlichen Zeitalter haben wir der Fesselung
des Manchester-Kapitalismus,
in der Folge den politischen
Beschränkungen der unmittelbaren Unternehmerinteressen zu verdanken. Das verstehen alle, nur die Unternehmer
sechzig Jahre nach Ende des
letzten Krieges noch immer
oder wieder nicht. Verhältnis von Wirtschaft und Politik Alle wirtschaftlichen Blütezeiten seit
den bürgerlichen Revolutionen waren Zeiten, in denen
die Politik, nicht zuletzt auch
durch gesellschaftlichen
Druck, stärker war als "die
Wirtschaft". Alles Elend und
alle Menschheitskatastrophen
aber geschahen in Zeiten, in
denen "die Wirtschaft" der Politik ihre Interessen diktieren
konnte. Politisch durchgesetzte vernünftige Fesseln für die
sich immer wieder entfesselnden Produktivkräfte, realpolitisch gesagt: sozial verträgliche Rahmenbedingungen für
die Wirtschaft, also volkswirtschaftliches statt ausschließlich betriebswirtschaftliches
Denken – nur dadurch waren
Unternehmer regelmäßig, letztlich zu ihrem eigenen
Vorteil, zu Innovationen und
zu Ideen gezwungen, die die
Produktivität steigerten und
durch wachsende Verteilungsgerechtigkeit den gesellschaftlichen Fortschritt beförderten. Führen Interssen der Unternehmer von sich aus zum Sozialstaat? Glauben Sie im Ernst,
dass die Interessen der Unternehmer von sich aus zum Sozialstaat geführt hätten? Stellen Sie sich bloß folgendes
Szenario vor: Zu Zeiten des
Manchester-Kapitalismus fragen die regierenden Politiker
submissest bei den Unternehmern an, was getan werden
müsse, um den Standort Manchester zu erhalten. Was hätten die Unternehmer wohl geantwortet? Natürlich das, was
sie für richtig und notwendig
hielten: Zwölfstundentag,
Kinderarbeit, Steuerbefreiung, dies müsse garantiert
werden, dann könne der
Standort Manchester erhalten
bleiben. Tatsächlich aber wissen wir alle sehr gut, dass es
eine Politik gegen die unmittelbaren Interessen "der Wirtschaft" war, die die Unternehmer dazu gezwungen hat, ihre
berühmte Unternehmerkreativität auszuspielen und innovativ etwa von der absoluten
Mehrwertproduktion zur relativen Mehrwertproduktion
überzugehen, ohne die es heute keine sozial einigermaßen verträgliche Moderne zumindest in Teilen der Welt gäbe. Hat einer hier bereits darüber
nachgedacht, was es wohl perspektivisch bedeutet, wenn
heute die regierenden Politiker die Wirtschaftseliten bloß
nach deren Bedürfnissen befragen, um Handlungsanweisungen zur "Sicherung der
Standorte" zu bekommen,
wenn sie also auf jene Weise
agieren, die in unserem Gedankenspiel eigentlich völlig
irreal wirkte? Haben wir uns
in aller Konsequenz klargemacht, was es bedeutet, wenn
der Chef der Industriellenvereinigung öffentlich und laut fordert, dass man von der relativen wieder zurück zur absoluten Mehrwertproduktion gehen müsse? Wissen Sie, was
das bedeutet? Wenn nicht,
dann machen Sie sich schlau –
und ziehen Sie sich warm an! Nun gibt es bekanntlich den
Einwand, dass all diese Modelle souveräner sozialstaatlicher Politik in Zeiten der Globalisierung nicht mehr funktionieren können. Das Kapital
agiere international, weshalb
in jedem einzelnen Staat die
nationale Politik gar nicht anders könne, als sich den Interessen der global bewegenden
Konzerne zu fügen, um den
Abfluss von Kapital aus ihrem
Land zu verhindern. Demokratiepolitische Probleme Das glaube ich gern, besser gesagt: ungern, aber ich glaube es. Nur:
so schlüssig, wie heute alle
tun, kann ein von partikularen
Interessen vorgebrachtes
Argument nie sein, solange es
auch andere Interessen gibt.
Am allerwenigsten, wenn die
dagegenstehenden Interessen
die Interessen der Mehrheit
sind. Und damit sind wir unversehens und doch logisch
bei demokratiepolitischen
Problemen angelangt. Ist Ihnen aufgefallen, dass
bei allem öffentlichen Räsonieren über die Anforderungen der Globalisierung von
Demokratie überhaupt nicht
mehr die Rede ist? Wir erfahren unausgesetzt, welche Anforderungen "die Wirtschaft"
an uns stellt, wir erfahren dies
in allen Varianten seltsamer
Metaphorik, zum Beispiel
dass wir "fit" für ihre Ansprüche werden müssen, und dass
es, wie es so ist beim Fitnesstraining, wehtun müsse – aber
Demokratie? War da was? "Fehlendes kulturelles und
politisches Selbstverständnis" Nun ist die Globalisierung,
wie sie sich heute real darstellt, im Grunde eine Parallelaktion. Auf der einen Seite
gibt es die Globalisierung im
Sinne der wirtschaftsliberalen
Interessen wesentlich US-
amerikanischer Provenienz,
die gegen jegliche Form sozialstaatlicher Errungenschaften
gerichtet sind. Auf der anderen Seite, und in unserem Interesse, gäbe es die nachnationale Entwicklung Europas,
das Zusammenwachsen und
sich Vernetzen der EU-Mitgliedsstaaten, im Grunde also
die Internationalisierung des
europäischen Sozialstaat-Modells. Hier hilft uns wieder ein
großer Dichter weiter. Robert
Musil. Woran scheitert eine
Parallelaktion? Am Fehlen einer verbindlichen Idee, am
Mangel an Praxis in Folge eines fehlenden kulturellen und
politischen Selbstverständnisses. Die überwältigende Mehrheit der Wähler hätte wohl die
gewählten politischen Repräsentanten jedes EU-Mitgliedsstaates nicht daran gehindert,
auf supranationaler Ebene politisch entsprechende Rahmenbedingungen für ein sozial zunehmend gerechtes
Wirtschaften auf der Basis der
sozialstaatlichen Erfahrungen
dieses Kontinents durchzusetzen. Dies wäre der demokratische Auftrag und die politische Hoffnung dieses Kontinents gewesen. Es ist aber
nicht geschehen. Was ist bislang politische Realität? Wir
wählen ein nationales Parlament, das seine Souveränität
an EU-Rat und Kommission
abgegeben hat und wesentlich
deren Richtlinien umzusetzen
hat. Rat und Kommission aber
sind von uns nicht gewählt,
als Gesetzgeber nicht demokratisch legitimiert. Zum
Trost dürfen wir ein europäisches Parlament wählen – das
aber keine gesetzgebende
Kraft hat. Kurz: die, die wir
wählen, machen nicht die Gesetze, und die, die die Gesetze
machen, haben wir nicht gewählt. Wir haben also eine zwar
ungenügende, aber immerhin
in Ansätzen vorhandene Demokratie aufgegeben, um demokratiepolitisch in einem
größeren Zusammenhang
nichts, absolut nichts dafür zu
bekommen. Der Anspruch
war ein anderer, die Hoffnungen waren andere. Was da passiert ist, ist menschengemacht, ist kein anonymer
Trend, keine so unerklärliche
wie machtvolle Weltentwicklung. Hier haben sich sehr partikulare Wirtschaftsinteressen
gegen die Bedürfnisse der
überwältigenden und nun
überwältigten Bevölkerungsmehrheit durchgesetzt. Wenn
die Mehrheit etwas will, eine
Minderheit aber sich kaufen
kann, was sie will, bleibt die
Demokratie auf der Strecke. Es
ist also kein Zufall, dass die
EU heute bereits bei genauerer
Betrachtung als Projekt erscheint, das vormals demokratische Staaten zum Zwecke
der gemeinsamen Abschaffung der Demokratie gegründet haben. Und sehr bald wird
es rückblickend von keinem
Historiker mehr anders gesehen werden können – wenn
wir uns auf den Universitäten
noch Historiker leisten werden können. EU-Verfassung hätte "das Primat der Wirtschaftsinteressen in Verfassungsrang
gesetzt" Die vorläufig
letzte Chance wäre die sogenannte EU-Verfassung gewesen. Und sie ist genau an dieser Frage gescheitert. Denn sie
hätte das Primat der Wirtschaftsinteressen und die von
den Wirtschaftsliberalen geforderte Abschaffung der Demokratie in Verfassungsrang
gesetzt. Sie wollen Beispiele?
In Ländern, in denen im
Gegensatz zu Österreich der
EU-Verfassungsentwurf öffentlich diskutiert wurde, sind
sie bekannt: Die Artikel III-
210-2a, II-111-2 und II-112-6
hätten das sozialpolitische
Dumping innerhalb der Union
garantiert. Die Artikel III-170
bis 176 sollten die steuerpolitische Konkurrenz und damit
das Steuerdumping verstärken, die das Sozialbudget der
Staaten weiter untergraben
und Betriebsverlagerungen
gefördert hätten. Einer EU-
weiten Harmonisierung der
Steuersysteme wäre hingegen
im Artikel III-171 ein Riegel
vorgeschoben worden, was lediglich die Erpressbarkeit der
einzelnen Staaten durch international agierende Konzerne
als rechtmäßig festgeschrieben hätte. Der Artikel I-41-7
sollte die europäische Verteidigungspolitik an die Nato
und damit an die USA koppeln, was den internationalen
Wettbewerb der beiden Globalisierungsmodelle weiter erschwert bis verunmöglicht
hätte. Und so weiter. Und diese Verfassung wäre so gut wie
nicht mehr revidierbar gewesen, weil dies die Einstimmigkeit aller 25 Staaten erfordert
hätte. Wundert es Sie jetzt, dass
Staaten mit längerer und ausgeprägterer demokratischer
Tradition, wie Frankreich und
Holland, diese Verfassung in Referenden abgelehnt haben? Was meinen die Politiker, wenn sie sagen "dass wir uns unsere
Kultur 'nicht wegbomben lassen'?" Spätestens hier stellt sich
die Frage, was unsere politischen Repräsentanten eigentlich meinen, wenn sie anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele in feierlichen Ansprachen mutig bekennen, dass "wir" uns unsere
Kultur und unsere von der
Aufklärung gespeisten Werte
einer freien demokratischen
Gesellschaft "nicht wegbomben lassen". Wegbomben haben wir sie uns ja wirklich
nicht lassen. Zugleich frage
ich mich, was der geistige Hintergrund der Entscheidung
war, im Anschluss an die Eröffnung der Festspiele zahllose
Böller in Salzburg abzuschießen, eine geradezu an Bombenterror gemahnende Serie
von Detonationen der Stadt zu
verpassen. Sollte diese Klangwolke der einzige Beitrag Salzburgs zur Vernetzung der
Festspiele mit dem Weltzustand sein? Zugleich zeigt sich just hier,
worauf ich hinauswollte, die
Frage, die Sie mir wohl schon
die längste Zeit stellen wollten: nämlich, was all meine
Abschweifungen mit Kultur
zu tun haben. Sehen Sie, wie
die Zersplitterung des Bewusstseins funktioniert? Die
Trübung Ihrer ureigenen Interessen? Ich habe es doch eingangs gesagt – und Sie haben
es schon fast vergessen –, dass
man an keinem weghängenden Faden des fatologischen
Gewebes, zum Beispiel unserer repräsentativen Kultur, anziehen kann, ohne sofort das
ganze Gewebe aus Wirtschaft
und Politik aufzutrennen. Ich habe die ganze
Zeit über von Kultur gesprochen – weil die Reflexion von
Kultur zunächst und grundsätzlich nichts anderes ist als
das Abschreiten der Bedingungen der Möglichkeit von
Kultur. Kultur ist nicht, wenn sich "einige schöngeistige Damen
mit einigen wohlbestallten Herren über das Genie in
der letzten Premiere unterhalten" Und wenn wir uns wenigstens darauf einigen können, dass "Kultur" sich nach
unseren Wertvorstellungen
nicht allein darin erweist, dass
einige schöngeistige Damen
sich mit einigen wohlbestallten Herren über das Genie in
der letzten Premiere unterhalten, und zugleich 170 Millionen auszugeben bereit sind,
wenn sie dabei fotografiert
und gefilmt werden, sondern
dass Kultur eine mühsam
faszinierende Konfrontation
der je eigenen beschränkten
Realität mit der Realität der
Welt und mit den möglichen
Zugängen zur Wahrheit des
Ganzen ist, dann werden Sie
doch zustimmen, wenn ich sage: Sie haben nicht mehr viele
Wahlmöglichkeiten, aber diese Wahl haben Sie noch, und
Sie müssen Ihre Interessen dahingehend überprüfen – nämlich die Wahl zwischen Kultur
und Kulturen in Form von
Spektakeln. Kultur umfasst alles Kultur umfasst alles. Auch Politik und Wirtschaft als deren Reflexion,
und spiegelt sogar so abstrakt
scheinende, schwer zu fassende Phänomene wie Sehnsucht, Glück, Sicherheit,
Faszination vor dem Schönen,
Schock vor der Wahrheit in
ihrer jeweils zeitgenössischen
Form. Kulturen aber, als Ornamente, als schöne Hinnahme
dessen was ist, bedeutet
nichts, es dockt nur überall an.
Es tritt auf, je nach politischem Bedarf, wirtschaftlichem Interesse und demagogischer Befriedung, als Unterhaltungskultur, Ablenkungskultur, Freizeitkultur, Eventkultur und so weiter. Mit Kultur verhält es sich – und hier
muss ich wieder einen großen
österreichischen Dichter paraphrasieren, nämlich Nestroy –
sprachlich verräterisch wie
mit der Freiheit: Tritt sie im
Plural auf, erweist sich ihr objektives Defizit, der Mangel
ihres singulären Sinns, ihrer
Bedeutung im Ganzen. Viele
Freiheiten zeigen, dass es der
Freiheit grundsätzlich ermangelt. So versteckt sich hinter
dem Potpourri der vielen kulturellen Höhepunkte der Mangel an Gewissheit, worin unsere Kultur eigentlich besteht,
schon am Tag nach den Sonntagsreden, die uns aufforderten, unsere Freiheiten zu verteidigen und dabei uns – wirklich uns? – in lukrativen Spektakeln zu feiern. Viel Spaß!" (Orginalfassung der gekürzten Rede, erschienen in DER STANDARD, Printausgabe, 26.07.2005)