Grasser: "Ich halte die Türkeidabatte für einen ganz schweren Fehler der europäischen Integrationspolitik."

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Auf EU-Ebene fordert Grasser eine Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip und wünscht sich wieder mehr nationale Kompetenzen und weniger Europa. Mit Grasser sprach Michael Völker.

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Standard: Im Oktober ist der Start der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei geplant. Sind Sie dafür, diese Verhandlungen zu verschieben?

Grasser: Eines muss ich vorausschicken: Ich halte es für ein großes Verdienst des Kanzlers und der Außenministerin, dass es gegen den starken Widerstand anderer EU-Staaten gelungen ist, Verhandlungen mit offenem Ausgang durchzusetzen. Das war ein österreichischer Erfolg. Ich bin aber dafür, dass man die Verhandlungen überhaupt verschiebt. Gerade die Türkeifrage ist ein Klassiker. Hier denkt die Bevölkerung ganz anders als die politische Führung. Würden wir heute eine Abstimmung machen, würde eine deutliche Mehrheit Nein zu einem Beitritt der Türkei sagen. Hier stellt sich die Frage: Verstehen wir die Signale? Die Türkei erfüllt weder wirtschaftlich, sozialpolitisch, noch in Bezug auf die Menschenrechte die Kriterien. Die Türkei liegt zu einem großen Teil in Asien, das ist auch kulturell eine neue Dimension, die man an Bord nehmen würde.

Standard: Soll die EU überhaupt Rumänien und Bulgarien aufnehmen?

Grasser: Rumänien und Bulgarien stehen außer Streit, das ist entschieden. Ich halte es für ein wichtiges Signal, dass man in Richtung Balkan wirkt und nach Slowenien auch Kroatien mit an Bord nimmt, weil die politische und wirtschaftliche Stabilisierung des Balkans ein großes Ziel sein muss. Wenn man jetzt über die Türkei diskutiert, frage ich mich, ist es für die EU nicht wesentlich wichtiger, über Serbien, Bosnien-Herzegowina, den Kosovo und Albanien zu diskutieren? Und wo endet die EU in 20 Jahren, wenn man bereit ist, die Türkei hereinzunehmen? Geht das bis zur Ukraine und Russland? Wenn sich 20 oder 25 Mitgliedsstaaten so schwer einigen können, werden sich 35 oder 40 einigen? Ich halte die Türkeidebatte für einen ganz schweren Fehler der europäischen Integrationspolitik.

Standard: Der Verfassungsentwurf der EU ist vorerst gescheitert. Wie soll es weitergehen?

Grasser: Meine Sorge ist, dass von der politischen Führung Europas nicht die Themen bearbeiten werden, die auch der Bevölkerung am wichtigsten sind. Die Meisten in der europäischen Bevölkerung würden die europäische Verfassung nicht vermissen. Wenn niemandem die Verfassung abgeht, brauchen wir sie dann? Nach dem Nein Frankreichs und der Niederlande muss man sich überlegen, ob man an der Bevölkerung vorbeiarbeitet, ob man die Prioritäten richtig setzt. Sollte es nicht vielmehr so sein, dass mehr als 19 Millionen Arbeitslose die wichtigste Herausforderung für die europäische Politik sein müssen? Also Wachstum und Beschäftigung. Österreich hat seit 1999 durch die Steuerreform, mehrere Wachstums- und Beschäftigungspakete und die Erhöhung der Gelder für Forschung und Entwicklung auf knapp 2,5 Prozent des BIP massive Akzente gesetzt. Wir haben eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in der EU.

Standard: Europa kommt auch ohne neue Verfassung aus? Wie sollen denn künftig Entscheidungen gefällt werden?

Grasser: Die entscheidende Frage ist die politische, die staatsrechtliche Struktur Europas. Wollen wir einen Bundesstaat oder einen Verbund von Staaten? Mein Eindruck ist, dass die Tendenz der europäischen Verfassung, die Befugnisse der europäischen Kommission und des europäischen Parlaments stärker in Richtung bundesstaatlicher Struktur und europäische Zentralregierung geht. Hier ergibt sich eine Kluft zwischen Bevölkerung und Politik. Ich glaube, die Bevölkerung will keine europäische Zentralregierung. Ich wäre dafür, diesen Rückschritt, den wir durch das Scheitern von Verfassung und Budget gemacht haben, als Chance zu sehen: Diskutieren wir die staatsrechtliche Struktur.

Standard: Wo soll diese Diskussion hinlaufen?

Grasser: Mein Ansatz wäre, wieder zu stärkeren nationalen Befugnissen zu kommen, dort, wo es Sinn macht. Niemand will ein bürokratisches Europa. Gleichzeitig müsste man Europa dort besser kommunizieren, wo es stark ist und Sinn macht: 60 Jahre Friede und Freiheit, der Binnenmarkt, die Wirtschafts- und Währungsunion. Wir haben mittlerweile darauf vergessen, diese einzigartige Erfolgsgeschichte des europäischen Projekts zu kommunizieren.

Standard: Sie sind dafür, die Befugnisse der EU zu reduzieren und die nationalen Kompetenzen wieder zu stärken?

Grasser: Europa muss stark sein in der Sicherheitspolitik und in der Außenpolitik. Europa in der zentralen Geldpolitik war ein großer Fortschritt. Die Frage muss auch sein, wie koordinieren wir unsere Fiskal- und Wirtschaftspolitik. Es gibt aber eine Fülle von Befugnissen auf europäischer Ebene, die besser in den Mitgliedsstaaten geregelt werden könnten. Wenn man dieses Europa nicht von unten baut, dürfen wir uns nicht wundern, dass die Verbindung zwischen Bürgern und der politischen Ebene einfach verloren geht.

Standard: Weniger Europa ist also mehr?

Grasser: Wollen wir zu einer europäischen Zentralregierung? Ich glaube, da ist die Bevölkerung nicht dafür. Zusammenarbeit also dort, wo es wichtig ist für Europa, aber nicht dort, wo es die Bevölkerung nicht versteht. Das sind nur plakative Beispiele, aber Sie erinnern sich an die Marmelade-Konfitüren-Diskussion. Oder den Transitvertrag. Das sind Dinge, die in den Bauch gehen, wo keine Begeisterung für Europa entsteht.

Standard: Soll das Einstimmigkeitsprinzip in der EU aufgehoben werden?

Grasser: Es kann nicht sein, dass ein Land sagt, wir befragen das Parlament, ein anderes, wir befragen die Bevölkerung. Wir wissen, es kommt nur ein Tohuwabohu und keine klare politische Linie heraus. Ich bin dafür, die Bevölkerung stärker einzubinden. Es sollte eine gesamteuropäische Volksabstimmung und eine doppelte Mehrheit geben, es müsste also auch die Mehrheit der Länder dafür sein.

Standard: Was würde das für Österreich bedeuten?

Grasser: Es stellt sich die Frage, ob das nicht eine Änderung der österreichischen Verfassung bedingen würde, die selbstverständlich vorher mit einer Volksabstimmung abgesegnet werden müsste. Wenn es dann eine europäische Volksabstimmung zu einem bestimmten Thema gibt und diese mehrheitlich zu einem Ergebnis kommt, Österreich hingegen anders abstimmt, müssten wir dennoch diesen Weg mitgehen. Das muss demokratiepolitisch und rechtsstaatlich gut gebaut sein.

Standard: In weniger Europa soll die Bevölkerung also mehr mitreden?

Grasser: Meine Sorge ist, dass die Reformgeschwindigkeit in Europa massiv darunter leiden könnte, wen man nicht zu leichteren und schnellgängigeren Mehrheitsentscheidungen kommt. Wenn weiterhin wesentliche Politikbereiche dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegen, bleiben Entscheidungsmechanismen langwierig. Wir müssen weg vom Einstimmigkeitsprinzip und zwar dort wo es ein gemeinsames Europa braucht. Wir brauchen weniger Europa. Die Unterstützung der Bevölkerung gewinnt man dann, wenn man mit Hausverstand erklären kann, wo man Europa braucht und wo nicht. In der Sicherheitspolitik braucht man Europa, in der Außenpolitik, in der Wirtschafts- und Währungspolitik. Das wird jeder verstehen. Richtlinien und Verordnungen, die in jeden Lebensbereich hineingehen, brauchen wir sicher nicht. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.7.2005)