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Betrachter vor einer Fotografie der Künstlerin Cindy Sherman

Foto: Reuters/David Gray
Es ist eine Frage, die nicht nur die Soziologen interessiert: Gibt es ein Grundgefühl der Gegenwart? Im Rückblick sieht es manchmal so aus. Was in den 80er-Jahren die Angst war, wurde in den 90er-Jahren die Gier. Derzeit, so schrieb Ludger Lütkehaus letzte Woche in der Zeit, leben wir an der Ekelgrenze. Prominente essen öffentlich Insekten. Vorprominente wohnen mit Kameras in einem Container. Unprominente räumen weg, was vom Luxus übrig bleibt. Der Ekel gilt als starkes Gefühl. Zu stark vielleicht als Signatur einer schwachen Epoche. Aber eine kleine Untersuchung lohnt sich allemal. Den Ekel gibt es männlich und sächlich. Im Neutrum ist der Ekel aber besonders männlich: Hans Moser oder "Ekel Alfred" sind die Vertreter dieser Form der kleinen Tyrannei, ausgeübt von Menschen, die kein Interesse daran haben, attraktiv zu sein. Das Gegenteil macht ihnen Spaß. Sie sind eine Zumutung.

Der Ekel fängt dort an, wo sich jemand mit Grausen abwendet. Er wird stärker, wo es nicht mehr hilft, sich die Nase zuzuhalten. Die Hände vors Gesicht? Dann hört man immer noch. Wie schreibt sich der Ekel eigentlich fonetisch? Mit vielen Selbstlauten und einem nicht vollständig stummen H.

"Wääääh! Uuuurgh! Iiiiiiih!" Das berühmte "Igitt" ist schon eine literarische Lautschrift für den Blick zurück in den Topf, in dem das Ausgeschiedene liegt. Ein Charakteristikum der Gegenwart ist auch, dass das Exkrement massenkulturell geworden ist. In der sauberen Wohnung kann der stubenreine Mensch am Abend noch ein wenig anrüchig werden.

Wo es nicht um die eigene Hinterlassenschaft geht, gilt der Ekel häufig erfolgreichen Gattungen. Er ist also ein Konkurrenzphänomen. Die Kakerlaken und die Ratten teilen sich den Planeten diskret mit dem Menschen. In der Dusche des Ferienhotels oder auf den Gleisen der U-Bahn fallen sie aber unangenehm auf. Wir zeigen mit den Fingern auf sie, und rufen den Kammerjäger.

Es gibt auch einen Ekel, der Connaisseure macht. Dann liegen die Spuren des Ekels im Genuss der Überwindung. Theodor W. Adorno hat dies mit der Zigarre und dem Whiskey in Zusammenhang gebracht, die beim ersten Mal noch nicht schmecken, bei jedem weiteren Mal jedoch den ersten Sieg über die Unlust in Erinnerung rufen. Für wagemutige Esser gilt Ähnliches: Die Küche wird dort besonders interessant, wo es unappetitlich wird. Hühnerfüße, Kutteln oder das Hirn ohne Ei sind eine Herausforderung. Wenn man sie bestanden hat, stößt es einem später manchmal noch auf.

Was aber, wenn es nicht mehr das Besondere ist, das den Ekel auslöst, sondern das Allgemeine? Wenn das tägliche Einerlei ekelhaft wird? Der Journalist und Blogger Peter Praschl hat diese Stimmung einmal festgehalten: "1968, 1977, GirlsCamp, Rabattgesetz. Alles nur ein und dasselbe: Zeug, das in Zeitungen steht, Fernsehsendungen, Spektakel, Gefasel, Geschwätz. Manchmal hält man das nicht mehr aus." Der Ekel wurde für Praschl der Begriff, auf den er sein Gefühl brachte. Er nahm diesen Eintrag später sogar in "The Best of Blogger" auf, fand ihn also von überzeitlicher Relevanz. Er hat ihn damit für unsere Gegenwart aufbewahrt, denn erst jetzt bildet sich der Medienzusammenhang für das Ekelhafte ausdrücklich aus.

Das Unterschichtfernsehen hat dabei die Spürnase vorn. Den Insassen von "Big Brother" reicht es nicht mehr, einfach in einer sterilen Umwelt herumzulungern und sich gelegentlich im Bikini zu duschen. Sie müssen Mutproben ablegen und Ekelgrenzen überschreiten. Sie müssen in einen finsteren Käfig steigen und nach Ratten tasten. Das Medium hat für diese plastikarchaischen Erfahrungen auch gleich eine Kulturtheorie bereit: "Früher gab es Kriege. Heute reagieren sich die Menschen anders ab", gab die einschlägige Moderatorin Sonja Zietlow bei TV Movie zu Protokoll. Das Format lautet Fear-Factor. Wer sich fürchtet, ist ein Seicherl, und wem graust, der scheidet aus.

Die Medien spielen im Dschungel und im Container nach, was in der Politik ganz offen ausgesprochen wird. Die Zumutbarkeitsbedingungen von Jobs sollen nicht länger negativ an den Ekel gebunden werden, sondern vielmehr positiv an dessen Überwindung. Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt heißt in Hinkunft vielleicht, dorthin gehen zu müssen, wo es stinkt.

Das passt zu der Diagnose von Ludger Lütkehaus, dessen kleiner Text über den Kapitalismus den Titel trug: Wir haben genug. Wir brauchen nichts mehr. Die hohe Produktivität bringt alles und mehr hervor, nur ausreichend Arbeit nicht, wodurch das ökologische Gleichgewicht zwischen Verausgabung und Konsum kippt. Die Werbung soll diese Balance wiederherstellen. Sie ist, so Lütkehaus, "die verschwiegene Misstrauenserklärung an den Wert der Produkte, die sie anpreist", sie ist "das Eingeständnis, dass niemand sie und die von ihr beworbenen Produkte eigentlich will". Die Werbung schützt vor dem Ekel. Aber der Firnis wird dünner.

Kulturhistorisch ist der Ekel ein konservativer Affekt. Man wendet sich mit Grausen ab von der Gegenwart und pflegt im sicheren Refugium die Rituale des Bewährten. Tobak und Destillat, die Ex-Ekel-Genüsse, verhelfen zu einem distinguierten Stil. Aber das (spieß-) bürgerliche Rückzugsgefecht ist ein aussichtsloses Unterfangen. Denn die Vermeidung von Ekel erfordert vielfache Verdrängungsmanöver, nach hinten in die eigene Erinnerung, nach vorn in die Zukunft der "Überflussgesellschaft" (Lütkehaus), nach außen gegen die schlechte Luft, und nach innen in die Ritzen der Altbauwohnung, durch die der Moder eindringt. Der konservative Ekel drückt sich um die wesentliche Pointe dieses Gefühls: die Möglichkeit, es immer auch auf sich selbst anzuwenden.

Meistens reicht es dann, wenn man sich duscht. Manche Menschen melden sich nach Würdeverlust und Ekelanfall zu einer Therapie an. Selbstbewusste entwickeln aus ihrem Ekel eine Kulturtheorie. "Diese Welt ist es nicht wert, revolutionär zu sein. Deswegen habe ich mich geekelt. Nicht zuletzt auch vor mir", schrieb Peter Praschl in seinem Sofa-Blog aus dem Lande Digitalien. Er brachte damit zum Ausdruck, dass sich im Ekel das Besondere und das Allgemeine stärker verbinden, als uns lieb sein kann. Der Ekel ist – auch wenn es auf den ersten Anruch nicht so erscheint – nämlich nichts Besonderes. Vielleicht ist er deswegen ja wirklich ein Grundgefühl der Gegenwart. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 16./17.7.2005)