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Foto: APA/EPA / EUROPEAN COMMISSION
Die estnische Hauptstadt Tallinn erlaubt eine Zeitreise durch fast alle Stilepochen. Mittelalterlich beginnt die Tour innerhalb der Stadtmauern, betont modern geben sich die Unterstadt und der Hafen, von dem es auch in kultureller Hinsicht nur ein kleiner Sprung über den Finnischen Meerbusen nach Helsinki ist.


Es ist alles eine Frage der Perspektive, auch der Blick auf Tallinn. Da gibt es eine Aussichtsterrasse auf dem alten Domberg hoch über der Stadt, wo das Panorama bei Sonnenuntergang ganz romantisch wird. Wer dort fotografiert, kann sich über Bilder mit mittelalterlichen Türmen und mächtigen Befestigungsmauern freuen, im Hintergrund leuchtet golden das Meer. Aber so sehr sich der Fotograf oder die Fotografin dort dreht und wendet, es drängt sich immer wieder eines der neuen Hochhäuser des Geschäftsviertels zwischen die spitzen Giebel und ins idyllische Stadtbild. Störendes Element oder reizvoller Kontrast - eine Frage der Perspektive.

Was der Panoramablick auf jeden Fall offenbart: Die estnische Hauptstadt besitzt ein reiches Erbe der Vergangenheit. 1154 wurde Tallinn erstmals erwähnt, im 13. Jahrhundert kamen die Dänen, ihre Blütezeit erlebte die Hansestadt, die damals Reval hieß, im 15. und 16. Jahrhundert unter dem Deutschen Orden, es folgten die Schweden, im 18. Jahrhundert schließlich eroberte Peter der Große die Stadt. Die Jahrhunderte und die Kulturen haben ihre Spuren in der Architektur hinterlassen: gotische Gebäude, mittelalterliche Kirchen, eine imposante Stadtmauer mit Wehrtürmen. Tallinns Altstadt gilt als das am besten erhaltene mittelalterliche Ensemble Europas, das liegt nicht zuletzt daran, dass es einst streng verboten war, innerhalb der Stadtmauern entflammbare Baumaterialien zu verwenden.

Hanseatisches Lei, Lei

Beim Altstadtfest Anfang Juni werden Turniere veranstaltet und der Maigraf gewählt, im Juli öffnet der Mittelaltermarkt, bei dem Spielleute und Narren zwischen den Marktständen herumschlendern, und auch beim Weihnachtsmarkt kommt das Mittelalter-Feeling nicht zu kurz. Der Spaziergang vom Altstadt-Haupteingang zum zentralen Rathausplatz, dem einstigen Marktplatz, führt unweigerlich am Restaurant "Olde Hansa" vorbei, wo es unter dunklen Gewölben und bei Kerzenschein "echt mittelalterlich" zugeht, kostümiertes Personal kredenzt deftige Speisen und die Spielleute geben dazu ihr Bestes. Üppig essen kann man getrost auch anderweitig, die estnische Küche ist, neben den Einflüssen aus Deutschland und Russland, vor allem eine herzhafte Bauernküche. Man denke an knusprige Schweinsstelzen, in Bier gesottene Würste und nahrhafte Erdäpfelgerichte. Bier dazu zu trinken ist obligat, an Gaststätten herrscht kein Mangel.

So gestärkt darf man durchaus das "Lange Bein" (Pikk jalg) in Angriff nehmen, das über holpriges Kopfsteinpflaster auf den Domberg führt, kürzer, aber umso steiler der Weg über die vielen Stufen des "Kurzen Beins" (Lühike jalg). Die Altstadt von Tallinn wirkt auch heute noch wie eine riesige Burg.

Die Grundsteine der Befestigungsanlagen wurden schon im späten 13. Jahrhundert gelegt und bildeten einen geschlossenen Verteidigungsring: 45 Türme und eine drei Meter dicke, 16 Meter hohe und vier Kilometer lange Stadtmauer; davon sind 26 Türme und zwei Kilometer Stadtmauer erhalten geblieben. Die Stadt war schon zu Hansezeiten zweigeteilt. In der Oberstadt siedelten der Adel und die Geistlichkeit, in der Unterstadt die Handelsleute und das Fußvolk.

Sehr viel anders ist es auch heute nicht, oben haben sich Botschaften und Ministerien im altehrwürdigen Gemäuer niedergelassen, unten nisten Geschäfte und Lokale. Beim Spaziergang durch die Gassen der Oberstadt darf der spätgotische Dom (Toomkirik) nicht links liegen gelassen werden, er beherbergt lebensgroße Figuren Verstorbener und prächtige Wappenschilde des deutschbaltischen Adels. Von den Fenstern des "Kiek in de Kök", einem dicken Kanonenturm aus dem 15. Jahrhundert, blickten einst die Soldaten in die Küchen der Stadt hinunter, heute dokumentiert eine permanente Ausstellung die Geschichte Tallinns.

Shoppen in Talsinki

Wieder in der Unterstadt angelangt, bietet sich der Rathausplatz (Raekoja Plats) als idealer Standort fürs Shoppen und Schauen an. Dicht drängen sich hier die Terrassen der Cafés und Restaurants, die Souvenir- und Handwerksgeschäfte mit ihren dicken Strickpullis, Filzmützen und Holzfiguren.

Einen Sprung entfernt ist das Marzipanmuseum mit köstlich-kitschigen, handbemalten Tierfiguren, und über den hübschen Katharinengang (Katariina käik) mit seinen Künstlerwerkstätten stößt man wieder auf die Stadtmauer, wo auf dem Wollmarkt allerlei Handgestricktes mit bunten skandinavischen Mustern verkauft wird. Bei aller Betonung der Vergangenheit hat Tallinn den Anschluss an die Gegenwart nicht vergessen.

Estland ist zwar der kleinste der drei baltischen Staaten, gilt aber als das dynamischste Land der Region. Nach der Unabhängigkeit 1991 kam "erste Hilfe" vor allem vom Nachbarn auf der anderen Seite des Meeres; rund ein Drittel der Investoren stammt aus Finnland, die Hightech-Betontheit hat man sich vom nordischen Nachbarn abgeschaut. "E-Stonia" zählt zu den Ländern mit den weltweit meisten Internetanschlüssen. Die enge Bindung zu Finnland beruht auf der geografischen Nähe und der Sprachverwandtschaft.

Als "Vorort von Helsinki" oder "Talsinki" wird Tallinn mitunter bezeichnet, die Esten nennen den Weg vom Hafen, wo die Fähren landen, zu den Lokalen in der Altstadt den "Elchpfad". Auf jenem beweisen die finnischen Gäste Konsumfreude und Trinkfestigkeit, die Preise, die zumindest in der Altstadt durchaus EU-Niveau erreicht haben, sind für die Besucher aus einem Hochpreisland noch immer ziemlich günstig.

Österreicher erleben so etwas wie einen monetären Flashback, die "Kroon" entspricht (nach Abzug von rund zehn Prozent) dem guten alten Schilling. Und da wundert man sich vielleicht wieder über so manchen Preis - ist aber alles eine Frage der Perspektive. (DER STANDARD, Printausgabe vom 9./10.7.2005)