Singapur/Paris - Gewiss, Bescheidenheit ist keine französische Tugend. Wenn die Nationalelf der "Bleus" das Feld betritt oder Amélie Mauresmo das Tennisturnier in Wimbledon aufnimmt, steht ihr triumphaler Finalsieg für die Pariser Sportzeitung L'Equipe längst fest. Das führt zwar öfters zu nachträglichem Katzenjammer, hat aber zunächst den Vorteil, dass die Franzosen mit einem unverwüstlichen Optimismus und Patriotismus zur Sache gehen.

Ähnlich verhielt es sich vor den Olympischen Sommerspielen 1992 und 2008. Zweimal kandidierte die Seine-Stadt, und zweimal glaubte sie den Zuschlag schon in der Tasche. Als Peking die Ausgabe 2008 zugestanden erhielt und Paris abgeschlagen hinter Istanbul und Toronto landete, blieb der damalige Bürgermeister beleidigt dabei: "Unser Projekt war das Beste." Dabei war schon die Präsentation der Kandidatur im sozial explosiven Vorort Aubervilliers, wo das olympische Dorf geplant war, zu einem Debakel verkommen.

Jetzt hat Paris dazugelernt. Und zwar mächtig. Denn Frankreich, das nicht erst seit der verpatzten Volksabstimmung über die EU-Verfassung in einer sozialen und wirtschaftlichen Krise steckt und von Selbstzweifeln geplagt wird, will, ja braucht die Spiele mehr als andere. Doch ist aus Paris kein voreiliges Triumphgeheul mehr zu vernehmen. Die französische Presse warnt jetzt ausdrücklich davor, "zu früh ,Sieg' zu rufen". Und der sozialistische Bürgermeister Bertrand Delanoë sagt nun in seltener Selbstbescheidung: "Um zu gewinnen, müssen wir jede Arroganz vermeiden, wir dürfen nicht glauben, dass wir auf jeden Fall die Besten sind."

17-mal Spitzenreiter

Dieser geradezu revolutionäre Mentalitätswandel ist den Pariser Olympiaplanern umso höher anzurechnen, als ihr Projekt diesmal wirklich zu den Besten zählt. Schwachpunkte gibt es kaum, Paris liegt bei allen 17 Kriterien des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) allein oder ex aequo an der Spitze. Das olympische Dorf wurde in die Stadt auf ein ausrangiertes Eisenbahngelände im 17. Arrondissement geholt. 77 Prozent aller Sportler erreichen die Austragungsorte im Nordosten (um das elegante Stade de France) und im Südwesten (beim älteren Parc des Princes und der Tennisanlage Roland-Garros) in weniger als zehn Minuten Fahrzeit.

Herzhaft, herzhaft

Das Projekt ist auch ökologischer als die meisten anderen, da zwei Drittel der Sportstätten schon stehen und mehr als 40.000 Quadratmeter Sonnenkollektoren vorgesehen sind. Die Gesamtkosten von 6,2 Milliarden Dollar - zweieinhalbmal weniger als das Vorhaben des Hauptrivalen London - sind durch staatliche Garantien voll gesichert. Frankreichs Bevölkerung steht laut Umfragen zu 79 Prozent hinter "Paris 2012", das als Devise "Aus Liebe zu den Spielen" gewählt hat und das "S" von "Paris" mit der ersten "2" zu einem Herzchen verbindet. Sogar die Gewerkschaften raspeln Süßholz und machten bei einer Lohnkundgebung einen großen Bogen um den offiziellen IOC-Besuch in Paris.

Nach der Visite pries das IOC die "sehr gute Qualität" der französischen Kandidatur. Das einzige Problem für Paris: London hat dasselbe Prädikat erhalten (während New York und Madrid immerhin noch eine "gute Qualität" zugesprochen erhielten). Die britischen Zeitungen frohlockten wider besseres Wissen, die französischen Gewerkschaften würden die Spiele in Paris wohl "dauernd stören" und ein "Chaos" anrichten. Das Ethikkomitee des IOC musste die Londoner Revolverblätter gar zu etwas sportlicherem Verhalten aufrufen, wie der seriöse Guardian berichtete. Aus Paris ist hingegen kein abschätziges Wort über die anderen Olympia-Städte zu hören. Nicht einmal über New York oder London - und das will in Frankreich etwas heißen.

"Wir äußern uns nicht über die Bewerbungen unserer befreundeten Städte", meinte Delanoë voller Fairplay. Die Zeitung Libération schrieb auch ganz im Geiste des französischen Olympia-Erweckers Pierre de Coubertin: "Auf dass der Beste gewinne!" Nur klein folgte der Zusatz: "Sofern es Paris ist." (Stefan Brändle - DER STANDARD PRINTAUSGABE 5.7. 2005)