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Wegen seines potenziellen Suchtcharakters wurde das E-Mail-Smartphone Blackberry "Crackberry" getauft, und spätestens wenn gute Freunde in intensiven Gesprächen ihren Communicator aufklappen, um schnell einmal Mail zu checken, weiß man: Es wird Zeit, darüber zu reden.

Bild. REUTERS/Yuri Gripas

Über den Atlantik erreicht uns seit einiger Zeit eine neue Sturmwelle, deren Ausläufer bei gemütlichen Abendessen mit Freunden, Kollegen und Geschäftspartnern ebenso wie im Familienkreis am Wochenende auch am alten Kontinent längst zu spüren sind: E-Mail-Wahn.

Suchtcharakter

Wegen seines potenziellen Suchtcharakters wurde das E-Mail-Smartphone Blackberry "Crackberry" getauft, und spätestens wenn gute Freunde in intensiven Gesprächen ihren Communicator aufklappen, um schnell einmal Mail zu checken, weiß man: Es wird Zeit, darüber zu reden.

"Early Adopters"

Wie jede neue Technik, die in unseren Alltag eindringt, sorgt sie am Anfang nebst der Begeisterung weniger "Early Adopters" für die Irritation vieler, weil bisherige Konventionen gestört werden.

Änderungen im Sozialverhalten

Auch bei der flächendeckenden Verbreitung von Telefonanlagen in Büros (vor gerade 40 Jahren war ein Anschluss an je- dem Arbeitsplatz noch keine Selbstverständlichkeit) dauerte es geraume Zeit, um zu akzeptierten Umgangsweisen zu finden; und Handys haben dies erneut ordentlich durcheinander gebracht. Nebst neuen Regeln - um angeblich gute alte Zustände nach dem Auftreten einer "disruptiven Technologie" wiederherzustellen - ändert sich auch unser Sozialverhalten; beides zusammen sorgt letztlich dafür, dass aus der Störung eine (mehr oder weniger) akzeptierte neue Ordnung entsteht.

"Abwesenheitsassistenten"

Nicht viel anders wird es mit mobiler E-Mail sein, bis sie in den Alltag eingegliedert ist. Auf die Bemerkung, dass man im Urlaub den "Abwesenheitsassistenten" aktivieren könne, um seine Freizeit ungestört zu verbringen, antwortete mir der hiesige Chef eines internationalen Konzerns, dass es "nicht gut ankommt, wenn der CEO eine Mail schickt und eine Abwesenheitsnotiz zurückbekommt".

24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche

Verständlich. Viele Unternehmen gehen davon aus, dass sie uns mit einem Dienstvertrag für 38,5 Stunden plus Überstundenpauschale in Wirklichkeit 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche gekauft haben. Aber das ist nicht das Problem einer neuen Technik, sondern problematischer Arbeitsvorstellungen, die zur Störung führen. Auf vielen Urlaubsanträgen wird man heute noch angehalten, Adressen und Telefonnummern anzugeben, wo man "in dringenden Fällen" erreichbar ist - wobei "dringend" meist eine Frage der Befindlichkeit des Chefs ist.

Erleichterung wie Belästigung

Für diesen Zustand sind Handys und mobile Mail mindestens so sehr Erleichterung wie Belästigung. Wer einen Job hat, der Engagement außerhalb der Bürozeiten erfordert, kann damit Verfügbarkeit besser dosieren: Wirklich "Dringliches" auszusortieren ist eine Frage persönlicher Disziplin, nicht der Technik. Und auch Dringliches kann meist ein paar Stunden oder bis zum nächsten Tag auf Antwort warten. Der Rest ist die Entwicklung einer neuen Etikette, um neue Techniken sozial verträglich zu machen - z. B. irritieren angekündigte mögliche Störungen weniger als unangekündigte und bringen Verständnis beim Gegenüber.

Lautlos

Im Übrigen stört E-Mail (wie SMS) weniger als klingelnde Handys, wobei viele ihrer Besitzer noch immer nicht gelernt haben, dass jene in Meetings oder beim Essen lautlos geschaltet werden können. (Der Standard Printausgabe, 2./3.Juli 2005, Helmut Spudich)