Der Spiegel brachte vor einiger Zeit eine lieblose Karikatur, die ein Elternpaar zeigte, dessen Sohn von zwei psychiatrischen Helfern in einer Zwangsjacke abgeführt wurde. Der Vater tröstete die Mutter mit den Worten: "Hauptsache, der Junge hat das Abitur." Übertrieben? Wahrscheinlich. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass auch österreichischen Eltern beinahe jedes Mittel recht ist, damit ihre Kinder die Matura erreichen. Warum?

Erstens ist die Matura in Österreich nicht bloß eine nützliche Qualifikation, mit der bestimmte Berechtigungen ("B-Posten", "Maturantenkompanie") verknüpft sind, sondern eine Art Sakrament, das einer Minderheit der Bevölkerung lebenslang eine gehobenen gesellschaftlichen Status vermittelt; sie ist das Kriterium, das die Bildungsbürger von "hoi polloi", dem "gewöhnlichen Volk", unterscheidet.

Zweitens hat die österreichische Matura eine in Europa einzigartige "akademische Kaufkraft". Während in den meisten Ländern die "meritokratische" Regel gilt - je besser die Noten im Maturazeugnis, desto "mächtiger" ist es, das heißt, desto größer sind die Chancen bei der Wahl der Universität und der Studienrichtung -, verleiht jedes österreichische Maturazeugnis die gleiche uneingeschränkte Studienberechtigung, ganz gleichgültig, ob es sich um eines mit "lauter Einsern" handelt oder um eines voller Vierer, das mit Würgen bei der zweiten Wiederholung erworben wurde. In Österreich gibt es für ein gutes Maturazeugnis keinen "Bonus".

Lange Leitung

Diese gemütliche, nicht besonders leistungsorientierte Konvention wird neuerdings von zwei Seiten bedroht: einerseits durch den OECD-weiten Trend zur Standardisierung, Objektivierung und testmäßigen Absicherung von Leistungserwartungen ("Standards") an kritischen Schnittstellen der Bildungskarriere, zu denen nach den Vorstellungen der ministeriellen Zukunftskommission auch die Matura als wichtige "High Stake"-Prüfung gehört, andererseits durch den bevorstehenden Entscheid des Europäischen Gerichtshofs.

Es bestehen kaum Zweifel daran, dass die bisherige österreichische Praxis, nur jene deutschen Abiturienten in Österreich studieren zu lassen, die in Deutschland einen Studienplatz haben, durch den EuGH als diskriminierend aufgehoben werden wird. (Das Wissenschaftsministerium weiß das übrigens schon seit mehr als zwölf Jahren, als es den Salzburger Verfassungsrechtler Prof. Berka beauftragte, die hochschulrechtlichen Auswirkungen des österreichischen EU-Beitritts zu prüfen.) Da studierwillige EU-Ausländer nach EU-Recht so zu behandeln sind wie Inländer, wird man zu deutschen Numerus-clausus-Migranten, deren Noten für die Studienzulassung in Fächern wie Medizin, Psychologie oder Betriebswirtschaft in Deutschland nicht gut genug waren, in Österreich genauso großzügig sein müssen wie zu inländischen Maturanten, bei denen ja auch jedes x-beliebige Maturazeugnis "gut genug" etwa für ein Medizinstudium ist.

"Elegante" Lösung

 Das Bildungsministerium mag es für eine besonders clevere und "elegante" Lösung halten, das Bummerl des Numerus clausus den Hochschulen zuzuspielen und sie zu "berechtigen", Studienplatzkapazitäten für überlaufene Studienrichtungen zu errechnen und sich Zugangsbeschränkungen auszudenken, aber macht es Sinn, dass jede Hochschule ihr eigenes Numerus-clausus-Verfahren bastelt, und darf man hoffen, dass das, was nun unter extremem Zeitdruck erarbeitet werden muss, den Anfechtungen deutscher Anwaltskanzleien standhalten wird, die seit Jahrzehnten auf das "Einklagen" wohlhabender Studenten in Numerus-clausus-Fakultäten spezialisiert sind?

Außerdem scheint man zurzeit noch völlig zu ignorieren, dass die Noten des Maturazeugnisses in einem selektiven Hochschulsystem mit Numerus clausus ungleich wichtiger sein werden als dies bisher der Fall war. Denn damit der "Numerus selectus" (wie er eigentlich heißen sollte) fair und mit einem verkraftbaren Aufwand administriert werden kann, wird man ähnlich wie in Schweden, in England oder in Deutschland vorgehen müssen, wo die Noten des Maturazeugnisses samt denen der letzten Klassen der Oberstufe oder ein daraus errechneter Punktewert das Hauptkriterium der Studienzulassung darstellen - ob dazu noch fachspezifische Tests und (für die Hochschullehrer sehr zeitaufwändige) Interviews kommen oder nicht. Mit welchen Rückwirkungen auf die Lernkultur der Sekundarschul-Oberstufe ist zu rechnen?

1) Die gesamte Notengebung wird einen "Objektivierungs-und Standardisierungsschub" durchmachen müssen. Standards, also durch Tests abgesicherte Leistungsanforderungen wie sie zurzeit als Folge von Pisa für die 10- und 14-Jährigen erarbeitet werden, scheinen für die "Kalibrierung" des Leistungsniveaus der Jahrgangsziele und Maturaaufgaben unabdingbar. Eine bundes- oder landesweite Zentralmatura, die den Gütekriterien von Tests entspricht, dürfte kaum zu vermeiden sein.

2) Die Eltern werden als Anwälte der Studierchancen ihrer Kinder der Lehrerschaft genauer und kritischer auf die benotenden Finger schauen, und die Schulinspektoren werden stärker als bisher die Aufgabe der "Eichung" und Sicherstellung von vergleichbaren Anforderungsniveaus in den verschiedenen Schulen wahrnehmen müssen.

Düstere Aussichten

3) Es wäre denkbar, dass manchen Schulfächern aufgrund eines sachlogischen Nahverhältnisses zu bestimmten Studienrichtungen bei der Studienzulassung eine besondere Gewichtung zugesprochen wird, was die Frage aufwirft, ob man in Österreich nicht wie in Deutschland die Fächer der Oberstufe in unterschiedlich anspruchsvollen Varianten (Grundkurse und Leistungskurse) anbieten soll.

4) Auch in Österreich könnte das eintreten, was man "die Demokratie der Fächer und die Aristokratie der Leistungen" nannte. Da jedes Fach, auch Musik und Religion, entscheidende Zehntel und Hundertstel zum Notendurchschnitt bzw. zum Gesamtpunkte-Score beiträgt, dürfte die landläufige Unterscheidung in "Haupt"- und "Neben"-Fächer verschwinden. Wer seine Chancen auf ein Medizin- oder Psychologiestudium optimieren möchte, wird es sich nicht mehr leisten können, aus kopierten Notenbeispielen aus der "Mondscheinsonate", die die Musikprofessorin verteilt, sofort einen Papierflieger zu falten.

Tja, düstere Aussichten. Aber, wer weiß, vielleicht hat das Bildungsministerium bereits längst für alles wohlüberlegte, harmlose Alternativen in der Schublade. Wie auch immer: Schöne Ferien!

(DER STANDARD-Priantausgabe, 2.7.2005)