Der Wahlsieg des radikalen Islamisten Mahmud Ahmadi-Nejad bei den iranischen Präsidentschaftswahlen ist weniger überraschend, als es auf den ersten Blick scheint.

In der ersten Runde reichten ihm offiziell 5,8 Millionen Stimmen, um auf den zweiten Platz und damit in die Stichwahl zu kommen. Das ist bei einer Gesamtbevölkerung von über 70 Millionen nicht viel und entspricht etwa der Anzahl der Menschen, die auch bei vorangegangenen Wahlen für die treuesten Anhänger der Revolution gestimmt haben. Berücksichtigt man die offenkundigen Manipulationen beim ersten Wahlgang durch den Wächterrat und die Freiwilligenmiliz der Basij, sind 5,8 Millionen also eine Zahl, die keineswegs unverhältnismäßig groß erscheint.

Und auch, dass Ahmadi-Nejad die offiziell 19 Prozent der gültigen Stimmen genügten, um in die Stichwahl einzuziehen, ist bei genauerer Betrachtung gar nicht so erstaunlich. Die Reformer waren gleichzeitig mit drei Kandidaten angetreten, und auch die übrigen Kandidaten waren allesamt mit einem betont liberalem Programm angetreten – alle bis auf Ahmadi-Nejad.

Außerdem hatten viele Intellektuelle, darunter die Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi, zum Wahlboykott aufgerufen.

Aber selbst wenn man nur die Zahl der Wähler zusammenrechnet, die tatsächlich zu den Urnen gegangen sind und für einen der Reformkandidaten gestimmt haben, hätte es auch bei dieser Wahl für einen klaren ersten Platz gereicht.

Das Fiasko der Reformer liegt also nicht an der Reformmüdigkeit der Bevölkerung, sondern zuallererst an ihrer eigenen Uneinigkeit und der verständlichen Ungeduld anderer, radikalerer Oppositionskräfte.

Beim zweiten Wahlgang hatten die Iraner nun die Wahl zwischen Ahmadi-Nejad und dem ehemaligen Staatspräsidenten Ali Akbar Hachemi Rafsanjani. Das war nicht mehr einfach eine Wahl zwischen einem Reformer und einem Konservativen. Für die meisten Iraner war das eine Wahl zwischen Arm und Reich.

Das Ergebnis zeigt nicht, dass die Mehrheit der Iraner sich über Nacht versöhnt hätte mit der Islamischen Republik. Aber es zeigt, dass die Unzufriedenheit in vielen Fällen mehr mit der sozialen Not als mit dem Mangel an politischer Freiheit zu tun hat. Ahmadi- Nejad trat als Fürsprecher der einfachen Leute auf, der die alten revolutionären Ideale von Frömmigkeit und Brüderlichkeit glaubhaft lebt. Rafsanjani hingegen ist einer der dienstältesten Politiker der Islamischen Republik.

Nicht der Islamist Ahmadi- Nejad, sondern Rafsanjani stand daher für das verhasste Establishment der Islamischen Republik.

Auch diese Stichwahl war – wie alle iranischen Wahlen der letzten Jahre – eine Protestwahl. Nur waren es diesmal nicht die liberalen Gegner des Regimes, denen dieser Protest zugute kam, sondern ein Politiker, der mit dem Versprechen antrat (und es dank der gewaltigen Propagandamaschine des Revolutionsführers bis in die letzten Winkel des Landes verbreiten konnte), die Islamische Republik zu ihren egalitären Ursprüngen zurückzuführen.

In der Stichwahl konnte Ahmadi-Nejad über das konservative Wählerpotenzial hinaus vor allem Stimmen jener Iraner auf sich ziehen, die unter der Armutsgrenze leben. Allein sie machen vierzig Prozent der Bevölkerung aus – nach offiziellen Angaben.

Kaum einer dieser rund zwanzig Millionen Wähler dürfte seine Stimme ausgerechnet dem reichsten Mann des Landes gegeben haben. Rafsanjani konnte aber offenkundig nicht einmal jene Wählerschaft ausreichend mobilisieren, die empfänglich gewesen wäre für seine Ankündigung, das Land zu öffnen. Seine Versuche, sich als Reformer zu profilieren, blieben angesichts seiner dunklen Vergangenheit vergeblich.

Viele Iraner, die sich eine Demokratisierung des Landes und die Trennung von Staat und Religion wünschen, taten sich schwer, ausgerechnet den Mann zu wählen, der wie kein anderer die Prinzipienlosigkeit und die Korruptheit der Islamischen Republik verkörpert und für viele politische Morde verantwortlich gemacht wird.

So groß die Furcht vor Ahmadi-Nejad war, sind viele Reformanhänger daher eher zu Hause geblieben oder haben sogar für den Islamisten gestimmt, nur um Rafsanjani abzustrafen.

Allein schon der Umstand, dass Rafsanjani als Turbanträger und gegen einen Mann im gewöhnlichen Straßenanzug antrat, erwies sich für ihn als ein Handicap, dem er auch nicht dadurch entkam, dass er seinen religiösen Titel in allen Werbespots tunlichst vermied.

Die Wahl Ahmadi-Nejads bedeutet nicht das Ende des Reformprozesses in Iran. Innerhalb der politischen Institutionen hatten die Konservativen das Ruder lange schon wieder an sich gerissen. In den letzten Jahren hatten sie so gut wie alle Reformzeitungen geschlossen, die Studentenaufstände blutig niedergeschlagen, tausende Dissidenten verhaftet und nach dem Ausschluss so gut wie aller Reformkandidaten auch das Parlament und die Kommunalräte zurückerobert.

Nichts davon hat zu hörbaren Protest in Europas Außenministerien geführt oder die Europäer dazu bewegt, ihre eigene, auf Annäherung ausgerichtete Iranpolitik zu überdenken. Selbst in der europäischen Öffentlichkeit herrschte der Eindruck vor, als befände sich der Iran auf einem langsamen, aber stetigen Weg in Richtung Liberalisierung, der behutsam zu unterstützen wäre.

Sorge bereitete einzig das iranische Atomprogramm. Dass die Sicherheitsfrage einen politischen Kontext haben könnte und Stabilität im Nahen Osten allein durch Demokratisierung zu erreichen wäre – dieser richtigen Analyse der amerikanischen Neokonservativen verweigert sich Europa bis heute.

So sind die iranischen Reformkräfte alleingelassen worden – alleingelassen von den Europäern, die sich seit langem mit der Herrschaft der Konservativen abgefunden hatten, alleingelassen von den Vereinigten Staaten und der Exilopposition, denen die Reformer nicht radikal genug erschienen, und am Ende alleingelassen von der Bevölkerung, die angesichts ihrer mangelnden Durchsetzungskraft in die Apathie zurückgefallen war.

Man muss sich das einmal vor Augen hatten: Über neunzig Prozent der Gesetzesentwürfe der Reformer wurden in den letzten Jahren vom konservativen Wächterrat blockiert. Viele Iraner waren es einfach müde, eine Regierung zu haben, die nicht einmal die dringlichsten Gesetze verabschieden kann. Der scheidende Präsident Khatami verfügte zum Schluss seiner Amtszeit nicht einmal mehr über den Einfluss eines Regierungssprechers.

In den Koordinaten der iranischen Regierungspolitik wird sich also kurzfristig nur wenig ändern. Der neue Präsident unterscheidet sich von seinem Vorgänger vor allem darin, dass er gar nicht mehr sein will als ein ausführendes Organ des Revolutionsführers. Die Exekutive ist nun wieder in der Hand derer, die ohnehin das Sagen im Land haben.

Insofern sind die Fronten jetzt wenigstens geklärt und werden die Reformkräfte nicht mehr für Dinge verantwortlich gemacht, auf die sie ohnehin keinen Einfluss hatten. In der Opposition sind sie vermutlich sogar besser aufgehoben. Die ärmeren Bevölkerungsschichten, die jetzt mehrheitlich für Ahmadi-Nejad ge 5. Spalte stimmt haben, werden sich wieder von ihm abwenden, sobald sie merken, dass mit außenpolitischer Isolation keine Arbeitsplätze zu schaffen sind. Die blinde Gefolgschaft, die es in den Anfängen der Revolution einmal für Ayatollah Khamenei gegeben hat, ist nicht per Dekret wiederherzustellen.

Den gesellschaftliche Umbruch in Iran – das wachsende Selbstbewusstsein der Frauen, die Weltoffenheit der Jugend, das aufklärerische Denken innerhalb der schiitischen Theologie, die westliche Orientierung der wirtschaftlichen Eliten – wird auch der neue Präsident Mahmud Ahmadi-Nejad nicht aufhalten können. Allenfalls werden sich noch mehr Iraner in die Resignation zurückziehen oder sich gleich für das Exil entscheiden. Bereit jetzt hat das Land die weltweit größte Rate im so genannten brain drain, der Migration von Akademikern ins Ausland.

Andere hingegen werden jetzt merken, dass sie sich eine bloße Null-Bock-Haltung, wie sie sich angesichts des Scheiterns der Reformer gerade in der Jugend ausgebreitet hatte, ihre Nöte noch viel größer macht.

Sie werden zurückfinden zum politischen Engagement, und sei es, um die wenigen Freiheiten zu verteidigen, die sie in den letzten Jahren gewonnen haben, vor allem die Freiheit auf ein selbstbestimmtes Privatleben.

In der Oppositionsrolle könnten sich die Reformkräfte neu formieren und mit unverbrauchten Gesichtern gegen die totalitäre Ideologie des Staatsislamismus ankämpfen, den "religiösen Faschismus", wie es der unterlegene Präsidentschaftskandidat Mustafa Moin nannte.

udem ist das politische Establishment und die Geistlichkeit in Ghom selbst tief in sich zerstritten. Mit dem Coup der Präsidentschaftswahlen, mit dem Revolutionsführer Khamenei und seine Getreuen im Sicherheitsapparat nun auch noch die letzte Verfassungsinstitution unter ihre unmittelbare Kontrolle gebracht haben, dürfte diese Rivalität in offene Feindschaft umschlagen, wie sich bereits in der wütenden Reaktionen Hashemi Rafsanjanis, Mehdi Karrubis und vieler anderer Veteranen der Islamischen Revolution auf die Wahl und die kaum verdeckten Manipulationen andeutet.

Die herrschenden Konservativen haben mit der Wahl ihre Machtstellung ausgebaut. Aber ihr Staat ist damit nicht stabiler geworden. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.6.2005)