Als Ergänzung zu "Carmen" zeigt das Joanneum die Ausstellung "Blicke auf Carmen" – unter anderem mit dem Foto "Zigeuner Nr. 8" von Charles Spindler (1890/1900).

Foto: Hamm/VBK

Will "Carmen" von Folklorismen zu befreien: Regisseurin Andrea Breth.

Foto: STANDARD/Corn

Fühlt sich Carmen sehr verbunden: Mezzosopranistin Nora Gubisch.

Foto: styriarte

Ein Gespräch mit Breth und der Carmen-Darstellerin Nora Gubisch über Missverständnisse

Graz – Wer ist Carmen? Eine folkloristische Zigeunerin? Eine Femme fatale? Ein Vorstoß weiblicher Emanzipiertheit? Eine Anarchistin? Ein Monster? Eine normale Frau? Ein Missverständnis.

Kaum eine Figur der Operngeschichte hat so widersprüchliche Reaktionen und Deutungen ausgelöst wie die Titelfigur der gleichnamigen Oper Bizets, einer Oper, die sich als eine der populärsten und meistgespieltesten in die Theater eingenistet hat. Carmen ist zum festen Bestandteil unserer Kulturgeschichte geworden. Doch wer ist diese Carmen, die so gerne als verruchtes rassig-südländisches Weib gesehen wird, als Lustobjekt und als Spielball männlicher Fantasien?

Für Friedrich Nietzsche, der an der Musik hervorhob, dass sie nicht "schwitze", war Carmen die Femme fatale, und seines Erachtens gehöre zum Vortrag eine wahre "Hexe". Er sah in Carmen die "in die Natur zurückübersetzte Liebe". Theodor W. Adorno schrieb 1955 mit Fantasie sopra Carmen ein Plädoyer für eine Ausgestoßene und nicht recht Domestizierte, die im Namen der Freiheit stirbt. Vor allem aber hebt Adorno die Raffinesse der Komposition hervor, die Konzentration auf das Essenzielle. Ebenfalls die musikalische Komponente betont René Leibowitz, für ihn ist die Partitur von herausragender Originalität und eine der größten Synthesen der Opernkunst des 19. Jahrhunderts.

Carmen wurde als Misserfolg 1875 an der Opéra Comique in Paris uraufgeführt, getextet von Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach einer Novelle von Prosper Mérimée, komponiert von dem kurz danach mit nur 36 Jahren verstorbenen Georges Bizet.

Ein Misserfolg? Dieses Bündel an zündelnden Melodien? Es wundere sie gar nicht, so Andrea Breth, Hausregisseurin am Burgtheater, schließlich müsse man bedenken, dass in Bizets Oper Schmuggler, Diebe oder Zigeuner auf der bürgerliche Opernbühne stehen, alles Menschen, die bis dato dort nicht verloren hatten. Das sei damals ein Novum gewesen und der Skandal die logische Reaktion.

Dass die Musik voller Opernhits stecke, sei ein weiteres Missverständnis. Es komme nur darauf an, die Musik richtig zu lesen und ihre Sprengkraft freizulegen. Carmen ist eine militante Oper, und was da passiert, sei überhaupt nicht schön. Heute, so Breth, gehe es darum, die Oper zu entschlacken und von Folklorismen zu befreien.

Breth interessiert an Carmen die Gewalt, das Archaische, der Anarchismus. Sie kennt auch kein Sprechtheaterstück mit einer so skrupellosen, aber auch interessanten und komplexen Frauenfigur. Die Welt der Carmen, so Breth, ist voll von Verbrechern, Verrätern und ekelhaften Soldaten. Es sei eine gottlose Welt, lediglich in Micaela – eine Erfindung Bizets – findet sich ein Hauch von Religion.

Revolutionäre Energie

Angesprochen auf die Erwartungshaltungen des Publikums, reagiert Breth genervt. Es gehe doch nicht darum, Erwartungen zu erfüllen oder zu brechen, sondern das umzusetzen, was geschrieben wurde. Sie und Harnoncourt seinen dafür bekannt, sich die Quellen genau anzusehen, und diese zeigen ein Werk mit revolutionärer Energie. Da sei ein Vulkan darunter. "Ich gehe davon aus, dass alle, die behaupten, Carmen zu kennen, sie nicht wirklich kennen."

Ebenfalls stark am gängigen Carmen-Bild zweifelt die in Paris geborene Mezzosopranistin Nora Gubisch. Sie fühle sich dieser Frau sehr verbunden, und sie verstehe auch die Popularität der Oper. Carmen sei wild, direkt, ausgestattet mit einem starken Willen. Jede Frau könne sich in Carmen finden. Sie sei auch keine Femme fatale, dazu ist sie viel zu ehrlich und zu natürlich.

Angesprochen auf die Kontroverse zwischen Sexualität und Begehren auf der einen sowie der Todesahnung auf der anderen Seite, meint Gubisch, dass es hier durchaus Verbindungen gäbe. Carmen fordere den Tod ja heraus und öffne sich ihm genauso offen, wie sie sich ihrer Sinnlichkeit hingebe. Carmen sei ähnlich den anderen Bühnenfiguren, aber nicht außergewöhnlich. Liebe, Eifersucht und Gewalt seien ja heute allgegenwärtig.

Die Arbeit mit Harnoncourt und Breth sei faszinierend, so Gubisch, beide stecken voller Leidenschaft; und beide möchten falsche Traditionen brechen. Deutlich ist ihre Ablehnung, die Rolle der Carmen mit einem Sopran zu besetzen. Carmen sei für Mezzosopran geschrieben, bei einer zu hohen Stimmlage fehle es dann an Kraft und Tiefe. Dies ergäbe dann jene gepresste Stimme, die Carmen so vulgär und viel zu alt klingen lässt. Und alt ist Carmen auf keinen Fall. (DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.06.2005)