Vor etwa zwölf Jahren hing im Büro des damaligen Creditanstalt-Generaldirektors Guido Schmidt-Chiari eine Karte der alten Habsburger-Monarchie, übersät mit verschiedenfarbigen Nadeln.

Die einen zeigten an, wo die CA einst eine Niederlassung hatte, die anderen, wo sie wieder präsent war oder dies plante. In einigen Jahren, prophezeite der Bankchef, werde die CA in der Region wieder flächendeckend vertreten sein.

Auch wenn "seine" Bank inzwischen dreimal verkauft worden ist - Schmidt-Chiaris Traum ist voll in Erfüllung gegangen. Schon seit Jahren sind BA-CA, Erste Bank und Raiffeisen die größten Spieler im mittel- und osteuropäischen Markt.

Aber durch den HVB-Unicredit-Deal und die nun folgende Aufwertung des Standorts Wien gibt es für jeden, der in den Finanzplatz Osteuropa will, nur noch eine wahre Adresse.

Die Ostkompetenz ist nicht auf Banken beschränkt. Versicherungen, Anwaltskanzleien und andere Dienstleister, die Osteuropa nicht als Einzelmärkte, sondern als Region betrachten, bündeln ihre Aktivitäten zunehmend in Wien.

Der nächste Schritt ist die Vernetzung der Aktienmärkte: Die einstige Lachnummer Wiener Börse hat gute Chancen, sich zu einer bedeutenden Regionalbörse zu entwickeln.

Die Bundeshauptstadt profitiert von einem typischen Cluster-Effekt: Weil hier die Firmen sitzen, die im Osten aktiv sind, gibt es zahlreiche Manager, die bereits Erfahrungen in der Region gesammelt haben, Anwälte, die sich mit dem Recht der Nachbarländer auskennen, Immobilienentwickler, die dort investieren.

Deshalb sind die AUA-Flüge auch in kleinere osteuropäische Städte voll. Und deshalb landen multinationale Konzerne, die am Boom im Osten mitnaschen wollen, zuerst einmal in Wien.

Weil das Geschäft meist funktioniert, bleiben sie und bauen aus. Das einstige Tor zum Osten ist zur Wirtschaftsmetropole des Ostens geworden - das nun auch Russland und die Türkei miteinschließt.

Diese Entwicklung erscheint zwar rückblickend logisch, aber nicht zwingend. Immer wieder hieß es, Wien werde seine traditionelle Drehscheibenfunktion nach dem Fall des Eisernen Vorhangs an Budapest oder Prag verlieren.

Die Osteuropabank EBRD wurde in London angesiedelt, die Großbanken saßen in Frankfurt, Berlin ist geografisch näher zu Warschau und Moskau. Doch Wien hat sie alle überholt - dank der richtigen Mischung aus westlicher und östlicher Mentalität, wertvoller traditioneller Bindungen sowie niedrigerer Mieten und einer höheren Lebensqualität als in den osteuropäischen Großstädten.

Diese günstigen Rahmenbedingungen wurden von der Politik mitgeschaffen. Deshalb können sich Wolfgang Schüssel und Michael Häupl ein wenig auf die Schulter klopfen. Sonst aber hat die Bundes- und Stadtpolitik zur größten Erfolgsstory des letzten Jahrzehnts nur wenig beigetragen.

Die Begeisterung eines Erhard Busek für Ost-Intellektuelle wurde belächelt, die Grenzen wurden abgeschottet, die Beziehungen zu den Regierungen vergiftet, die Straßen- und Bahnverbindungen ganz bewusst nicht ausgebaut. Der Aufbau einer grenzüberschreitenden Region rund um Wien ging über Ankündigungen nie hinaus.

Auch für die Österreicher bleibt der Osten eine fremde Welt, für die sich nur wenige ernsthaft - etwa durch Sprachenunterricht - interessieren. Es waren vor allem Manager und Unternehmer, die die Chancen erkannten und verwirklichten. Der Ostcluster Wien mit seiner hohen Wertschöpfung ist ein Triumph der Marktwirtschaft.

Diese Eliten profitieren nun auch am stärksten. Neue Arbeitsplätze entstehen zumeist in hoch qualifizierten Segmenten - für Anwälte, Werber und Finanzexperten. Als Industriestandort aber wird Wien weiter verlieren.

Und für Einsteigerpositionen im Servicesektor werden sich immer mehr junge Tschechen, Slowaken, Ungarn und Polen bewerben, die eine bessere Ausbildung und mehr Ehrgeiz haben als der typische WU-Absolvent. Denn das neue Wien gehört auch ihnen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.06.2005)