Wien - Zehn Jahre nach der semiotischen Wende, die von den beiden französischen Choreografen Jérôme Bel und Xavier Le Roy ausging, wird nun im zeitgenössischen Tanz zu einem weiteren Sprung nach vorne angesetzt. Diese Konzeptualisten der 90er-Jahre hatten ihre Arbeiten der Dekadenz der 80er entgegengestellt. Eine Schockwelle folgte: Jedes Vor-sich-hin-Basteln weltvergessener Pseudogenies geriet ins Abseits.

Erstmals seit den 60er-Jahren wurde wieder nach ethischen Strukturen innerhalb der Tanzästhetik gefragt - dafür musste nicht unbedingt "getanzt" werden. Wütend setzte sich eine Masse mediokrer Apologeten künstlerischer Körperkorruption zur Wehr. Der Konflikt dauert bis heute.

Nun folgt eine zweite progressive Welle. Die 27-jährige, aus Grenoble stammende Wahlwienerin Anne Juren zählt zu ihren Auslösern. Sie führt Maßstäbe des Konzeptualismus in das Tanzen ein. Ihre neue Arbeit, Code Series, die gerade bei der factory season des Tanzquartier Wien zu sehen war, ist ein vierzigminütiger Tanz. Und als solcher kein Gustostück für Experten, sondern ein furioses Statement über den Tanz ohne virtuose Spekulation, ohne Didaktik, aber diskursgeladen.

Technisch und dramaturgisch glänzend gelöst, erweist sich Code Series als Griff in die Zukunft: strikt und offen im Ansatz, so klar wie komplex konstruiert, und als ästhetisches Statement politisch brisant in seiner Entpathetisierung des Körperdiskurses. Einen Verweis auf diese Hinwendung zum Tanzen hatte Juren mit der Pariser Choreografin Alice Chauchat bereits 2004 in deren gemeinsamem Stück J'aime gegeben.

Weißer Nebel

Auch Chauchat zeigte ihr neues Stück, Crystalll, ein grandioses kleines Werk mit Alix Eynaudi, die bis vor Kurzem Tänzerin bei Anne Teresa De Keersmaeker war. In einem Galerie-Theaterraum-Hybrid erscheint Eynaudi erst aus dichtem, weißem Nebel wie Duchamps berühmter Akt, der die Treppe hinabsteigt - als Bewegungskonzept und als Paraphrase des bildkünstlerischen Klischees vom weiblichen Modell.

In einem schwarzen Kleid, das an Odile aus Schwanensee erinnert, bewegt sie sich daraufhin durch das Publikum, in preziösen Posen, in sich gebrochenen Phrasen, während sehr, sehr leise das Laura-Palmer-Thema aus David Lynchs Film Twin Peaks eingespielt wird. In diesem mörderisch guten Ambiente rechnet die traumhafte Tänzerin Eynaudi mit dem Klischee von der traumhaften Tänzerin ab, indem sie es so lange überhöht, bis sie auf einem Podest als Skulptur gewordene performative Pathosformel erstarrt.

Crystalll wie Code Series sind zweifellos Top-Werke und deutliche Signale einer jungen Generation von Choreografen, die die Konventionen des Spektakels mit subtiler Konsequenz subvertiert. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.5.2005)