Für manche (Nichtjuristen) hat der Begriff "Verfassung" das Flair eines Romans von Sándor Márai: die Moral einer zerfallenden Lebensordnung, hochgehalten von korrekten Männern, die in Reflexionen über die Vergangenheit gesellschafts- und lebensrelevante Prinzipien von einst in eine neue Zeit zu retten versuchen. In einer Diskussion über die europäische Verfassung meinte ein offensichtlicher Vertreter der Internetgeneration gar, dass sich die "vernetzte postbürgerliche Öffentlichkeit" nicht als Ausdruck einer Demokratie begreife, die sich im Rahmen einer Verfassung reflektiert, sondern als "heterogene Kommunikationsgesellschaft jenseits des Kanons politischer Regeln", die wohl kaum zu einer politischen Kultur klassischer Bürgergesellschaften zurückkehren werde. Der Verfassungsgedanke leide an der Antiquiertheit des zugrunde liegenden Menschenbilds und Politikmodells.

Egal, wie un- oder repäsentativ diese Einschätzung ist, ob sie stimmt oder nicht, immerhin drückt sie ein Lebensgefühl und damit zusammenhängendes Politikverständnis aus. Die Befindlichkeit zumindest eines Teils unserer Gesellschaft stellt sich nach dieser Beschreibung jedenfalls anders dar, als sie die Politik für ihre Vorgangsweisen voraussetzt. Nicht, dass das sonderlich überraschend wäre: Es gibt genügend Beispiele, bei denen die Politik an Realitäten oder Vorstellungen der Bürger vorbeiagiert. In Sachen Verfassung aber geht es um die Grundstruktur unseres politischen Systems schlechthin. Damit soll dem oben erwähnten Diskutanten und seinen Sinnesverwandten widersprochen werden: Verfassungen sind nicht bloße Rhetorik, deren Beitrag zur Formung des politischen Lebens einer Gesellschaft vernachlässigbar sind, sie geben vielmehr die Bahnen der gesellschaftlichen Entwicklung vor, quasi als Flussbett, in dem Spielregeln entstehen und entwickelt werden und zugleich Begrenzungen gesetzt sind. Nicht die Geschwindigkeit des Wasserlaufs, Stromschnellen oder Strudel sind vorherbestimmt, sondern der Rahmen, in dem sich alles abzuspielen hat.

Dabei müssen Flussregulierungen selbstverständlich möglich sein, doch sind diese der Gewichtigkeit solcher Entscheidungen entsprechend an ein besonderes Procedere gebunden. Trotzdem hat in der jüngeren Vergangenheit der leichtfertige Umgang mit der Verfassung bei uns zugenommen, ohne dass dies in der Öffentlichkeit (von einigen Zeitungskommentaren abgesehen) besonderes Aufsehen erregt hätte. Ob es sich um Grund- und Freiheitsrechte handelt, Rechtsstaatsprinzipien oder den Datenschutz - liegt es daran, dass zu viele Menschen der Verfassung nur rhetorischen Charakter zuschreiben, der eben von den Notwendigkeiten der Praxis oft überholt werden muss? Liegt es daran, dass die Bürger gar nicht wissen, wie ihre Rechte (und Pflichten) geschützt sind, sodass man sie ihnen so leicht nehmen kann? Oder liegt es daran, dass wir die Zeit der Aufklärung, den Aufbruch aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, wie sie Kant nannte, zwar datumsmäßig weit hinter uns gelassen, aber entwicklungsmäßig nicht einmal noch erreicht haben?

Es fasziniert mich immer wieder, mit welchem Anspruch die Menschen nach Mitbestimmung und -entscheidung rufen, ohne dass sie sich im Rahmen des selbstverständlich Möglichen die Entscheidungsvoraussetzungen aneignen, nämlich die nötige Information. Die Empörung über die so genannten "Sanktionen" der EU-14 waren ein Paradefall: Man echauffierte sich über sie, ohne sie wirklich zu kennen. Und wenn nun an manchem Stammtisch eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung gefordert wird, so kommt das Verlangen meist aus dem Munde jemandes, der - selbst verschuldet - keine Ahnung hat, worüber er eigentlich abstimmen möchte.

Das alles ist zugegebenermaßen ein Kernproblem der Demokratie, das auch von der Politik zu lösen wäre. Diese aber ist oft froh über die Uninformiertheit der Bürger, weil sie so leichtes Spiel hat, ihre Machtinteressen durchzusetzen. Da macht sie auch vor einer Verfassung nicht Halt, wie das unrühmliche Beispiel des Österreichkonvents gezeigt hat. Verfassungsfragen sind vornehmlich Machtfragen, und daher wurde schon die Besetzung des Konvents durch die Regierung auf eine Weise vorgenommen, die der Absicherung der aufgeteilten Macht entsprach. Die Folgen waren klar. Da die Machthaber selbst über ihren Machtbestand verhandelten, blieb alles beim Alten: Der Föderalismus war kein Thema, denn er ist Machtinstrument der Landeshauptleute, Kontrollrechte hatten keine Chance, denn sie stören die Machtausübung der Regierungsmehrheit, soziale Grundrechte konnten nicht durchgesetzt werden, denn sie engen das Machtspielfeld der Wirtschaft ein, die Privilegien der Religionsgemeinschaften blieben unberührt, denn sie sichern die Machtstellung der Kirchen ab. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Wie kann nach solcher Art praktizierter Egoismen beim Bürger und der Bürgerin ein positiver emotionaler Zugang zu einer Verfassung hergestellt werden, wie die Schlussfolgerung entkräftet, man hätte es sich auch auf europäischer Ebene "gerichtet"? Wie soll jenen Populisten glaubwürdig entgegengetreten werden, die wahrheitswidrig behaupten, uns stehe ein neoliberaler Militärpakt bevor, der sämtliche bisherigen Errungenschaften überrollt?

Eine Verfassung soll die Betroffenen für sich einnehmen. Sie muss für wert befunden werden verteidigt zu werden und für so wichtig, dass sie weiterzuentwickeln ist. Die Politik hat sich in diesen Fragen nicht gerade vorbildhaft verhalten, und das sollte man ihr mehr als übel nehmen. Wer aber hindert uns Bürger, die Verfassungen mit Leben zu erfüllen? Wir müssen österreichische Verfassungswidrigkeiten nicht widerspruchslos hinnehmen und wir können eine europäische Verfassungswirklichkeit schaffen. Wir müssen nur neben der politischen auch unsere eigene Verantwortlichkeit sehen und leben. (ALBUM, DER STANDARD, Printausgabe, 28./29.5.2005)