Wien - Die Sokolov-Sucht ist eine von der medizinischen Fachliteratur noch recht unscharf skizzierte Manie, was eine grobe wissenschaftliche Nachlässigkeit darstellt, da die Zahl der Sokolov-Suchtkranken von Auftritt zu Auftritt des russischen Pianisten stetig ansteigt. Beinahe jeder, der Grigorij Sokolov einmal sein klingendes Wunderwerk hat vollbringen hören, möchte es bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wieder tun: hören und staunen, wie der 55-Jährige die ideale Balance hält zwischen Spiel und Reflexion, Weisheit und Witz.

Ein kurzer Auftritt des Meisters im Rahmen eines Gastspiels der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen im Konzerthaus bot dem Sokolov-Junkie nun Gelegenheit, seine - aufgrund der Absage des März-Soloabends im Musikverein wieder akut gewordenen - Entzugserscheinungen zu bekämpfen, und speziell mit Mozarts so sonnenweichem wie schmerzreichem A-Dur-Klavierkonzert KV 488 sollte das doch überhaupt kein Problem sein.

Denkste! Buttercremetortenflauschig hatte Sokolov sein Arbeitsgerät intonieren, statt der Filzbezüge wohl 88 kleine Wattebäusche an den Hämmern des Konzerthaus-Steinway anbringen lassen: Die Pointiertheit der Gestaltung der Ecksätze war so leider eher zu erahnen als zu erfahren. Im Mittelsatz ließ der Russe gerade beim resignativen Eröffnungsthema singende Einfachheit missen und füsilierte mit seinen zahlreichen Miniattacken an fast jedem Ton des Themas dessen zarten improvisatorischen Fluss.

Ausgleichend dafür malte die Deutsche Kammerphilharmonie unter der Leitung Trevor Pinnocks bei ihrem Eintritt in den fis-Moll-Satz ein warmfarbiges, lebendiges Bild des Klagens - so sinnlich, atmend und vielstimmig erzählend, wie auch Joseph Haydns Es-Dur-Symphonie Hob. I/99 und Carl Philipp Emanuel Bachs D-Dur-Symphonie Wq 183/1 in wahrster, anschaulichster Sinnfälligkeit wieder zu klingendem Leben erweckt wurden.

Im Musikverein präsentierte am Wochenende Maurizio Pollini in Kooperation mit den Wiener Philharmonikern Mozarts Klavierkonzerte KV 453 und KV 467: Mangelnde Prägnanz der Themenzeichnung und die völlige Absenz von Spielwitz machten schon nach wenigen Konzertminuten nach Rudolf Buchbinder sehnen und ließen einen nur bald darauf in ein tiefes Mozart-Koma fallen, aus welchem auch Igor Strawinskys mit limitierter Drastik erzählte Geschichte vom Soldaten nicht nachhaltig zu erwecken vermochte. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.05.2005)