Begründerin des israelischen Krimis: Batya Gur
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Jerusalem - Krimis, so Batya Gur, seien nicht zuletzt Ausdruck eines kollektiven gesellschaftlichen Schuldgefühls. Weshalb es kein Zufall sei, dass das Genre gegen Ende der Achtzigerjahre, als die Besetzung der Palästinensergebiete eine ernsthafte Hinterfragung des israelischen Selbstverständnisses auslöste, erstmals in der israelischen Literatur erprobt wurde - übrigens von ihr selbst.

1988 veröffentlichte die 1947 in Tel Aviv als Tochter polnisch-russischer Holocaust-Überlebender geborene Batya Gur den ersten israelischen Krimi: Denn am Sabbat sollst du ruhen - einen Mordfall im präzise beschriebenen Milieu der Psychoanalytiker, der dem Leser nebenbei Einblicke in Verfahren und Regeln der Psychoanalyse gestattete.

Milieustudien, sorgsam recherchierte und genau beobachtete Einblicke in die heutige israelische Gesellschaft, zeichnen denn auch alle ihre kriminalistischen Gegenwartsromane aus - wobei sie stets am heilen Bild kratzte, das das offizielle Israel von sich selbst zu zeichnen wünschte. So führt Du sollst nicht begehren ins Innere eines Kibbuz, wo Gur Frustrationen, Neid und ökonomische Zwänge mit dem Ideal der harmonischen Kibbuz-Gemeinschaft kontrastierte.

"Israel ist erst ein echter Staat, wenn es auch israelische Krimis mit jüdischen Mördern gibt, die die moralische Überlegenheit der Juden infrage stellen", argumentierte die Begründerin der hebräischen Kriminalliteratur wiederholt - ein Status, den das Land in Anbetracht der heutigen Beliebtheit des Genres mittlerweile erreicht haben dürfte. Mit Inspektor Michael Ochajon, Gurs Jerusalemer Beamten, fahnden nun zahlreiche Kollegen nach Schuld - und beruhigender Sühne. Vor wenigen Wochen noch wollte Batya Gur in einer von Ruth Beckermann kuratierten Vortragsreihe in Wien über ihr Israelbild sprechen. Aufgrund ihrer Krebserkrankung musste sie absagen. Am Donnerstag starb sie in Jerusalem. (cia/DER STANDARD, Printausgabe 21./22.05.2005)