Selten tritt in der Politik der Widerspruch zwischen Realität und Inszenierung so deutlich hervor wie beim Thema Neutralität - und selten bemühen sich Politiker mehr, diesen Widerspruch zu kaschieren.

Die Realität ist, dass sich die Neutralität spätestens seit dem EU-Beitritt Österreichs überlebt hat. Schon zu Zeiten der großen Koalition wurden Kampfeinsätze ermöglicht, unter Schwarz- Blau die Formel "solidarisch in Europa, neutral im Rest der Welt" erfunden - wobei solidarisch notfalls auch kriegsführend heißen kann. Dem gegenüber steht die politische Inszenierung: Mit schöner Regelmäßigkeit beteuern mittlerweile alle Parteien, auch die einst skeptische ÖVP, dass die Neutralität unantastbares Nationalheiligtum ist. Jüngstes Beispiel: das BZÖ, dessen Chef Jörg Haider die Neutralität durch eine Volksabstimmung neu bewerten lassen will - wohl als nicht ganz uneigennützige Krönung des an patriotischer Inszenierung nicht gerade armen Jubiläumsjahrs.

Aus agitatorischer Sicht wäre eine solche Volksabstimmung durchaus interessant: In welchem politischen System der westlichen Welt bitten Regierende Regierte sonst zu den Urnen, um eine ideologische Chimäre als offizielle Staatsdoktrin zu bekräftigen?

Ehrlicher wäre es gerade im so genannten Gedankenjahr, das N-Wort nicht als billige populistische Zugabe zu verwenden, sondern über eine österreichische Selbstverortung jenseits des Staatsneutralismus nachzudenken - auch gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit. Denn die österreichische Interpretation von "neutral sein" in seiner volksnahen, isolationistischen Ausprägung des "nur nicht mit mir" mag zwar bequem sein - für die Europawerdung Österreichs ist sie hinderlich. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.05.2005)