Die Affäre um einen möglicherweise unrichtigen oder unvollständigen, aber folgenschweren Bericht der Zeitschrift Newsweek hat der Weltöffentlichkeit in den vergangenen Tagen ein unheiliges Drama in mehreren Akten vor Augen geführt. Dieses Drama rührt an tiefe Ängste und religiöse Sensibilitäten, und es ist ein Drama, das keinen wirklichen Helden kennt.

Sein erster Akt beginnt am 9. Mai 2005. An diesem Tag publiziert die Zeitschrift Newsweek einen Artikel, in dem, unter Berufung auf einen anonymen Informanten, von einem angeblichen internen Untersuchungsbericht des US-Militärs berichtet wird.

Dessen Gegenstand: Bei einem Verhör in Guantánamo soll ein amerikanischer Wachebeamter vor den Augen eines muslimischen Gefangenen einen Koran ins Klo hinuntergespült haben. Eine Woche später und nach einer Reihe tödlicher Unruhen in Afghanistan, die durch diesen Bericht ausgelöst werden, wird sich Newsweek-Chefredakteur Michael Whitaker dafür entschuldigen, dass der Bericht möglicherweise mit Irrtümern behaftet gewesen sei. Als klares Dementi will Whitaker seine Entschuldigung aber auch nicht verstanden wissen. Vielleicht war es wahr, vielleicht auch nicht.

Unangenehme Erkenntnis aus dem ersten Akt des Stücks: Die lange Liste amerikanischer Medienirrtümer der letzten Jahre könnte um ein besonders gravierendes Exemplar länger geworden sein, und Newsweek hat bei einer Geschichte, über deren potenzielle Auswirkungen es sich klar sein musste, auf verheerende Art geschlampt. Manche skeptischen Muslime verdächtigten hingegen sofort die US-Regierung, dass sie Newsweek gezwungen habe, den Bericht zurückzunehmen.

Zweiter Akt: Durch die weit verzweigten Nachrichtenkanäle des globalisierten Zeitalters verbreitet sich die Nachricht von der tatsächlichen oder angeblichen Untat weltweit. Islamistische Hassprediger nehmen die Geschichte begeistert zum Anlass, die Emotionen zu schüren. Insgesamt 16 Menschen kommen bei Unruhen in Afghanistan ums Leben. Unangenehme Lehre aus dem zweiten Akt: An fundamentalistischen Narren, die bereit sind, bei jeder Gelegenheit den Heiligen Krieg auszurufen, herrscht nach wie vor kein Mangel. Man kann über laizistisch organisierte Gesellschaften sagen, was man will, aber dass der Ärger über gotteslästerliche Veranstaltungen dort in zivilisierten Formen ausgetragen werden muss, zählt zu ihren überzeugendsten Vorteilen. Als der Künstler Andres Serrano in den 80er-Jahren eine in Urin getränkte Christusfigur ("Piss Christ") ausstellte, fuhr die religiöse Rechte in den USA vor Zorn zwar fast aus der Haut, aber damit hatte es im Wesentlichen sein Bewenden.

Zurück zum dritten Akt: Im Pentagon schwillt der Sturm der Empörung, der nach dem ersten Newsweek-Bericht ausgebrochen war, nach Whitakers Entschuldigung zu einem Orkan der Entrüstung an. Die Reaktion ist verständlich, wenn man bedenkt, dass der Erfolg der US-Militäraktionen in Afghanistan, im Irak und sonst wo davon abhängt, dass diese Aktionen nicht als Teil eines religiös motivierten Kreuzzugs verstanden werden, sondern als eine Episode im Krieg gegen den Terror. Geschichten über US-Soldaten, die blasphemische Happenings veranstalten, sind das Letzte, was der Pentagon braucht.

Die Entrüstung aus dieser illustren Institution wäre freilich um einiges glaubwürdiger, wenn man mit ähnlicher Geschwindigkeit und Überzeugungskraft auf frühere Exzesse in Guantánamo und Abu Ghraib reagiert hätte. Unangenehme Erkenntnis aus dem dritten Akt: Die US-Regierung hat es, vor allem mit ihrer unseligen Guantánamo-Politik, geschafft, dass Berichte wie der jüngste von Newsweek selbst dann plausibel wirken können, wenn sie aus der Luft gegriffen sind. Es ist, wie gesagt, ein unheiliges, aber lehrreiches Drama: weil es auf den Punkt bringt, welche Narrheiten und tragischen Ursache-Wirkungs-Verhältnisse im Krieg gegen den Terror auf der Tagesordnung stehen. (DER STANDARD, Printausgabe, 17.05.2005)