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Schranken? Das hatte ich noch nie gesehen. Kein Wunder bei einem noch nicht Vierjährigen. Sie blieben in meiner Erinnerung. Und sie verließen mein Gedächtnis nicht. Als etwas, vor dem man Halt machen musste, das man aber auch überwinden konnte. Wenn man wollte. Diese Schranken, das waren die "Mautstellen" der Russen, die im Jahre 1945 sogar bis nach Oberzeiring bei Judenburg vorgerückt waren, dem ehemaligen Silberort, dessen Erlöse im 14. Jahrhundert den Bau des Wiener Stephansdoms finanzierten.

Die zweite Erinnerung an das Kriegsende: leuchtende Punkte, die sich über der Tanzstatt, dem Berg, hinter dem das Skigebiet Lachtal liegt und auf dem heute Windräder stehen, in Tropfen verwandelten. Später sagte man mir, das seien "feindliche Bomber" gewesen, die auf - wen immer - zielten. Noch etwas später erfuhr ich, dass die "Feindlichen" Amerikaner und Briten waren, die nicht in Oberzeiring selbst, sondern in Judenburg nach dem Abzug der Russen das Sagen hatten.

Dritte Erinnerung: Das war schon 1946. Wieder einmal fuhren wir von der Bahnstation Thalheim mit dem Zug nach Graz zur Großmama Fanny. In Bruck an der Mur war Umsteigen angesagt. Unser ursprünglicher Zug fuhr weiter Richtung Semmering, und mein Vater sagte, dort seien jetzt die Russen, die auch Wien besetzt hielten. Deshalb könne er jetzt keine Anzüge und Hüte mehr kaufen, was er von Zeit zu Zeit mit seinen Besuchen im Justizministerium verband. Im neuen Zug saßen viele britische Soldaten. Einer von ihnen bot mir Schokolade an - von der Sorte, die meine Mutter in besseren Jahren auf den Milchreis rieb. Vielleicht entstand bereits damals meine anglophile Neigung.

Etliches später machte ich in Graz Bekanntschaft mit einer Vorliebe meiner Großmama, die andererseits, als ich noch die Volksschule besuchte, einen wöchentlichen Englisch-Unterricht bezahlte. Es war nicht die Schokolade, sondern Fische hatten es ihr angetan. Sie aß Russen, jene Highlights einer "Küche der Bescheidenheit", wie ich sie heute noch liebe. Damals aß ich mit ihr die Russen mit Eifer und Befriedigung. Irgendwann war ich froh, dass sich dieses Gefühl verflüchtigt hatte. Und dass es "diese Russen" schon lange vor dem Weltkrieg gegeben hat.

In Oberzeiring, wo meine Großmama die Nachkriegssommer verbrachte, hatte sie weniger Freude mit mir. Sie war manchmal so in Bücher vertieft, dass sie ihre Aufpasserrolle vergaß und ich mich "verduftete". Jener immer wieder erzählte Vorfall, der die Familie erstarren ließ, ereignete sich irgendwann nach Kriegsende: Die Gendarmerie griff mich in Unterzeiring, einige Kilometer vom Elternhaus entfernt, auf. Schwer trug ich an einer Munitionsbüchse, die ich irgendwo auf meinem Ausreißerweg gefunden hatte. Als ich schon erwachsen war, bemerkte meine Mutter oft, jedes Mal dunkel und erregt: "Die hätte explodieren können."

Explosionen und Bomben blieben mir im obersteirischen 800-Einwohner-Markt erspart. Ich kannte sie aus Erzählungen und aus der Besichtigung der Folgen. Graz bot noch lang die Bilder der Zerstörung, die sich zu den Eindrücken fügten, die ich daheim sammeln konnte - der Wald, wo wir Fichtenzapfen in Kühe und Pferde verwandelten, der Garten, wo der Rettich wuchs, die Apfelbäume mit der Schafnase, einer Sorte, die auf über 800 Metern noch schmeckt. In Graz, da roch es nach Staub, wieder daheim, war die Luft nicht nur kühler, sondern auch frischer. Der Feinstaub des Weltkriegs und die grüne Lunge der Berge. Noch lange kontrastierten diese beiden Gegenwelten in meinen Gedankengängen.

So wird es wohl auch jenen ergehen, die (wie unsere Zeitzeugen auf diesen ALBUM-Seiten) eine turbulente Kindheit erlebt haben. Oder durchmachen mussten. Zum Beispiel die Bewohner von Knittelfeld, einer der meistzerstörten Städte der Steiermark, wohin jene Lichtpunkte, die ich mir gemerkt habe, flogen. Ich weiß nicht, warum: Aber mein stärkstes Bild aus jener Zeit bleibt das mit der Schranke und den wechselnden russischen Soldaten, die ich nicht drohend in Erinnerung habe. Angeblich bin ich dort oft und lange gestanden, um dem Geschehen am Eingang des Ortes beizuwohnen. Und weil mich meine Eltern nicht allein dort lassen konnten, musste unser "Mädchen" auf mich aufpassen. Sie hatte, gestand sie später, um sich selbst viel mehr Angst als um den Kleinen. (Gerfried Sperl/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14./15. 5. 2005)