Zum ersten Mal aus New York in Österreich zu Gast: Schieles "Die Traumbeschaute" (1911).

Foto: Metropolitan Museum

Vom erotischen "Grenzgänger" Egon Schiele über den "Oberwildling" Oskar Kokoschka bis zu den Erregungen um Adolf Loos.

Wien – Überraschung: Wer glaubt, "nackte Wahrheiten" der Wiener "Skandalmaler" aus der Zeit um und nach 1900 – Schiele, Klimt, Kokoschka, Gerstl oder Kolig – würden im Jahr 2005 nur noch müdes Gähnen hervorrufen, irrt gewaltig. Was in intimer Boudoir-Atmosphäre des Museums dank des gedämpften Lichts bedächtige Betrachtung erfährt, ist im öffentlichen Raum offenbar noch erregungstauglich. Denn auf der Wiener Bim darf Schieles Sitzender männlicher Akt von 1910, der mehr Skelett als Geschlecht zeigt, nicht spazieren fahren.

Diese zeitgenössische Variante Wiener Prüderie hat man im Leopold Museum wohl nicht vorhersehen können – oder womöglich als Marketinggag bereits mit eingeplant. Es scheint dort Befürchtungen gegeben zu haben, mit den durch Aufdruck auf souvenirtaugliche Tassen und Regenschirme zu auflagenstarker Popularität gelangten Akten niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken zu können. Wie erklären sich sonst Werbeslogans im Stil einschlägiger Anzeigen mit kostspieligen Mehrwertnummern? Da möchte uns z.B. ein "schwarzhaariges Mädchen mit hochgeschlagenem Rock" ebenso kennen lernen wie "zwei auf dem Rücken liegende Frauen". Die Klientel der Museumsbesucher ist solcherart gewiss zu erweitern – nur: um welchen Preis?

Dem plakativen äußeren Schein entgegen steht eine in ihrer Aufmachung sehr zurückhaltende und durchdachte Schau von Kurator Tobias G. Natter, die bereits in der Frankfurter Kunsthalle Schirn 130.000 Besucher anlockte. Ausgangspunkt für die in sieben Kapitel unterteilte Ausstellung ist die historistische und allegorische Malerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts, vertreten durch Hans Makarts großformatige Fünf Sinne.

Das Nackte im Gewand der mythologischen Darstellung wurde schon bald von Gustav Klimt entschleiert. Für die Aula der Wiener Universität sollte Klimt Allegorien von Jurisprudenz, Philosophie und Medizin anfertigen, fiel aber mit der Darstellung einer nackten Schwangeren bei den Auftraggebern prompt durch: Auf Betreiben Rudolf Leopolds sind sie nun ebendort als Faksimiles installiert.

Radikale Reaktion

Nach dem Motto "Jetzt erst recht" reagierte Klimt auf Spott und Kritik mit einer radikalisierten Körperlichkeit: 1899 entstand das Gemälde Die nackte Wahrheit. Eine hüllenlose Schönheit hält der Welt den Spiegel vor.

Der "Oberwildling" Oskar Kokoschka antwortete auf die Stigmatisierung durch die Öffentlichkeit ebenfalls mit einer unterstreichenden Geste: "Als Verbrecher behandelt", ließ er sich den Kopf kahl scheren. Auch Egon Schiele, von dem zum allerersten Mal in Österreich das einst skandalisierte Blatt Die Traumbeschaute (1910) zu sehen ist, bot sich wegen expliziter erotischer "Grenzerkundungen" als Paradebösewicht an. Ein Sittlichkeitsprozess brachte ihm 24 Tage Haft ein.

Neben Blicken auf das "Androgyne" und den "Geschlechterkampf" wird auch ein Exkurs ins Feld der Architektur geboten: Protagonist ist hier das Loos-Haus. Dessen drastische Ornamentlosigkeit führte zu Verunglimpfungen der Architektur als "Mistkiste": Ihre "Nacktheit" empfand man als "unanständig"...
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13.5.2005)